1.5 Orientierungsmittel für Hypertext

Lost in Hyperspace

Beim Stöbern in den Inhalten eines Hypertextangebots besteht leicht die Gefahr, sich vom Hundertsten ins Tausendste zu verirren. Angenommen, eine Startseite enthält einige Verweise zu Seiten über Ortschaften. Man klickt eine der Seiten an. In den Inhalten zur Ortschaft klickt man auf einen Link zu einem Fürsten, in dessen Gemarkung die Ortschaft einst fiel. In den Inhalten zu dem Fürsten klickt man auf einen Link zu einer Hygienevorrichtung, die im Schloss dieses Fürsten bereits installiert war, was zu der damaligen Zeit alles andere als selbstverständlich war. In den Inhalten zu der Hygienevorrichtung klickt man auf einen Link zu einer Krankheit, die durch die Einführung dieser Hygienevorrichtung weitgehend besiegt werden konnte.

Man kann also sehr weit und interdisziplinär herumkommen, wenn man beim Hypertext-Stöbern spontan Verweisen folgt. Dies passt zu der Beobachtung, dass nur wenige Gedankenschritte nötig sind, um von einem beliebigen Gedanken zu einem beliebigen anderen Gedanken eine logisch sinnvolle Verbindung zu schaffen. Im obigen Beispiel genügen drei Links, um eine logisch nachvollziehbare Brücke zwischen einer Ortschaft und einer längst ausgerotteten Krankheit herzustellen. Als kognitiver Prozess betrachtet, ist so etwas durchaus bemerkenswert und faszinierend (Stichwort Serendipity). Aus Sicht des betroffenen Anwenders kann eine solche Gedankendrift jedoch auch als unerwünschte Ablenkung vom ursprünglichen Interesse empfunden werden. Solange in einer solchen Situation genügend Angebote existieren, über die der Anwender leicht zurückfindet oder sich anders orientieren kann, wird sich die Negativ-Empfindung vermutlich in Grenzen halten. Fehlen solche Angebote jedoch, tritt das sogenannte Lost-in-Hyperspace-Gefühl ein („verloren im Hyperspace“).

Stöbern in Hypertext lädt also zum Driften ein. Erfreuliche Mehrwerteffekte („Serendipity-Effekte“), die dabei auftreten können, sind nicht planbar. Unerfreuliche Lost-in-Hyperspace-Gefühle sind jedoch vermeidbar. Die Mittel dazu werden teilweise von der verwendeten Hypertext-Software bereitgestellt. Anbieter von Hypertext-Inhalten können jedoch ebenfalls entscheidend dazu beitragen, dass keine Lost-in-Hyperspace-Gefühle auftreten.

Hilfen zur Rück- und Neuorientierung

Ein Web-Browser ist Hypertext-Software für Anwender. Das kommt schon in bekannten Produktnamen wie Navigator oder Explorer zum Ausdruck. Das ganze Web und seine Technologien sind ebenfalls auf Hypertext ausgelegt. Im Web und in Web-Browsern sind daher auch typische software-seitige Mittel zur Rück- und Neuorientierung in Hypertexten vorgesehen. Diese Mittel sind jedoch keine neue Erfindungen, die erst durch das Web entstanden. Auch Hypertext-Software im Vor-Webzeitalter kannte bereits vergleichbare Mittel.

Backtracking/Historie

Im griechischen Mythos war es der Ariadnefaden, der Theseus wieder aus dem Labyrinth des Minotaurus heraushalf. Wer heute mit einem Web-Browser surft, zieht mit jedem neuen Seitenaufruf ebenfalls einen Ariadnefaden hinter sich her. Wenn man sich im Hyperspace verirrt, ist die Liste der bereits besuchten Seiten häufig ein willkommener Rettungsanker.

Die einfachste Form ist das schrittweise Zurückorientieren, Backtracking genannt. Nicht von ungefähr bezeichnet der Begriff im Englischen eine algorithmische Problemlösungsmethode. Auch dem Menschen kommt diese Methode entgegen. Moderne Browser bieten dazu in ihrer Werkzeugleiste eine Schaltfläche („Back-Button“) an. Durch wiederholtes Betätigen werden die zuvor besuchten Webseiten wieder angezeigt. Da die Browser deren Inhalte meistens in einem Cache gespeichert haben, müssen sie nicht einmal mehr aus dem Web übertragen werden, sondern sind sofort präsent. Eine interessante Ergänzung in diesem Zusammenhang ist die Geschwisterschaltfläche „Forward-Button“. Diese Funktion ist dann verfügbar, wenn ein Backtracking gestartet wurde. Sie ermöglicht das erneute Vorwärtsblättern, also gewissermaßen ein Backtracking zum Backtracking.

Während einfaches Backtracking dem Anwender hilft, um aus Hypertext-Sackgassen schnell und intuitiv wieder herauszufinden, dient die Historie bereits besuchter Inhalte eher der gezielten Neuorientierung. Moderne Browser machen die gespeicherte Historie über eine Sidebar, über Menüs oder über einen separaten Dialog zugänglich. Der Anwender kann sich die Titel gespeicherter Inhalte nach Besuchszeit oder nach Kriterien wie Domain-Namen sortieren lassen. Wie viele Daten oder welcher Zeitraum in der Historie gespeichert wird, ist einstellbar. Der Anwender kann die gesamte Historie außerdem jederzeit löschen.

Lesezeichen/Bookmarks/Favoriten

Ein Sachbuch ohne Inhaltsverzeichnis würde von den meisten Lesern mit gutem Recht als schwer zugänglich empfunden. Das Bedürfnis, sich über ein Inhaltsverzeichnis zu orientieren, besteht bei Hypertext-Inhalten ebenso. Für umfangreiche Hypertext-Angebote kann es jedoch nicht „das eine“ Inhaltsverzeichnis geben. Zur Grundausstattung einer ordentlichen Hypertext-Software gehört daher die Möglichkeit, sich ein eigenes, auf persönliche Interessen zugeschnittenes Inhaltsverzeichnis einzurichten.

Lesezeichen, Bookmarks oder auch Favoriten, wie sie je nach Software genannt werden, bestehen als Dateneinheit aus mindestens zwei Feldern: der Adresse eines Hypertext-Inhalts, und einem Titel, unter dem der Eintrag aufgelistet wird. Einige moderne Browser erlauben es darüber hinaus, Kurzbeschreibungen zu den Einträgen zu bearbeiten.

Da die meisten Anwender in der Praxis sehr schnell sehr viele Lesezeichen setzen, würde eine einfache Liste bald unübersichtlich. Deshalb werden die Lesezeichen heute in aller Regel in frei bearbeitbaren Verzeichnissstrukturen gespeichert, ähnlich wie Dateien im Verzeichnisbaum eines Datenträgers. Durch die Speicherform einer Verzeichnisstruktur lässt sich die Lesezeichenfunktion bei ordentlicher Verzeichnispflege tatsächlich wie ein persönliches Inhaltsverzeichnis nutzen. Für die meisten Web-Anwender ist das Lesezeichenverzeichnis ihres Browsers längst zum Standardinstrument geworden, um sich im Web zu orientieren. Ein Lesezeichenverzeichnis bewahrt auch vor Lost-in-Hyperspace-Gefühlen, da es jederzeit eine für den Anwender vertraute Möglichkeit der Neuorientierung bietet.

Da Lesezeichen mit dem Konnotat „hier halte ich mich gerne auf“ (daher auch die Bezeichnung „Favoriten“ im Internet Explorer) besetzt sind, sind sie nicht nur für den Benutzer interessant, der das Lesezeichen gesetzt hat. Webangebote für Social Bookmarking basieren auf der Idee, dass Benutzer ihre Lesezeichen einfach online speichern. Der Anreiz für die Benutzer besteht darin, dass sie bei dieser Speicherart von überall auf ihre Lesezeichen zugreifen können. Aus dem gemeinsamen Pool aller Lesezeichen entsteht eine Art Web-Verzeichnis. Neben Titel, Zieladresse und Kurzbeschreibung erhalten die Lesezeichen dabei außerdem sogenannte Labels oder Tags, also Stichwörter. Indem alle Benutzer davon Gebrauch machen, wird Gemeinschaftliches Indexieren betrieben.

Verzeichnisse, Feeds und Software-Agenten

Wie gut ein persönliches Lesezeichenverzeichnis ist, hängt davon ab, wie viel der Anwender, der es pflegt, im Inhaltsangebot bereits entdeckt hat. Ein Lesezeichenverzeichnis dokumentiert letztlich immer, was der Anwender bereits kennt. Ebenso wichtig sind jedoch inhaltliche Übersichtsformen, die der Anwender nicht selber pflegt, und die ihm neue, bislang unbekannte Inhalte erschließen helfen.

Die klassische Form „allgemeingültiger“ Web-Inhaltsverzeichnisse repräsentierten in den Anfangsjahren des Webanbieter wie Yahoo. Eine frühere Version der Yahoo-Startseite zeugt noch vom ursprünglichen Charakter eines allgemeinen Linkverzeichnisses. Die gegenwärtige Version der gleichen Seite zeigt dagegen, dass dieser Anspruch aufgegeben wurde. Auch ehemals in diesem Bereich konkurrierende Services wie Excite, Lycos oder Web.de haben sich längst davon verabschiedet, primär ein allgemeines Verzeichnis für andere Inhalte zu sein. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits sind all diese Services kommerziell orientiert und mussten nach Wegen suchen, um profitabel zu sein. Weitere Gründe für das Sterben der klassischen, redaktionell gepflegten Web-Verzeichnisse ist die schiere Masse an Inhalten im Web, das häufige Wechseln von Inhalten zu anderen Domains, sowie Pseudo-Inhalte, die beispielsweise nur Wikipedia-Inhalte kopieren.

Vielversprechender sind aus gegenwärtiger Sicht Inhaltsübersichten, die nicht mehr redaktionell zustande kommen, sondern durch Software-Prozesse. Ein Beispiel für diese Repräsentationsform sind die immer erfolgreicher werdenden Newsfeeds (RSS- oder Atom-Feeds). Die Aktivität des Anwenders beschränkt sich bei Newsfeeds darauf, News-Kanäle zu Themen, die ihn interessieren, zu abonnieren. Die Schlagzeilen und manchmal auch Anlesertexte der News eines abonnierten Kanals bekommt der Anwender dann automatisch und aktuell aufgelistet.

Die nächste Ausbaustufe auf dem Weg zu generierten Inhaltsübersichten sind Software-Agenten. Während die Crawler, Spider und Robots großer Suchmaschinen bereits ausgereifte Typen dieser Software-Gattung sind, führen Software-Agenten, die von Endanwendern gestartet werden, noch eher ein Schattendasein. Es ist jedoch absehbar, dass sich dies ändern wird.

Generierte Inhaltsübersichten lassen sich ähnlich wie Lesezeichenverzeichnisse in die Benutzeroberfläche eines Browsers integrieren. Sie bieten dem Anwender ein weiteres, ebenso wichtiges Mittel zur Rück- und Neuorientierung wie die persönlichen Lesezeichen.

Homepages/Startseiten

In den Anfängen des Web hatten vor allem Universitätsangehörige Zugang zum Web. Viele von ihnen hatten zugleich auch die Möglichkeit, auf den Universitätsservern unterhalb eines persönlichen Verzeichnisses eine eigene Homepage zu speichern. Obwohl diese Homepages öffentlich zugänglich waren, dienten sie in vielen Fällen nur dazu, persönliche Links ähnlich wie in Lesezeichenverzeichnissen zu sammeln. Nicht wenige Benutzer legten im Inhalt ihrer Homepage einfach den HTML-Inhalt der vom damals dominanten Netscape-Browser generierten Datei bookmarks.html ab. Im Browser als Startseite eingestellt, ermöglichten sie dem Homepage-Besitzer über den „Home-Button“, der wie der Back-Button zum Ur-Repertoire aller Web-Browser gehört, die schnelle Neuorientierung über eine vertraute Startseite.

Auch heute noch haben zahlreiche Anwender eine persönliche Startseite im Browser eingestellt. In Firmen und Organisationen ist das meistens die Einstiegsseite des Intranets. Wieder andere Anwender nutzen personalisierte Startseiten bei Services wie Netvibes, Google oder GMX als persönliche Startseite. Manch einer baut sich auch seine eigene lokale Homepage oder landet beim Start auf den Home-Button im Familien- oder Wohngemeinschafts-Wiki.

Eine persönliche Startseite im Browser kann also alles Mögliche sein. Doch sie will mit Bedacht gewählt sein. Denn der Klick auf den Home-Button ist bei drohendem Lost-in-Hyperspace-Gefühl oft die spontane Panikreaktion, weil der Anwender dadurch sofort wieder in seiner vertrauten Umgebung landet. Die Startseite und das unmittelbar daran angeschlossene Angebot tragen also wesentlich dazu bei, was ein Anwender vom Web zu sehen bekommt, und wie er sich im Web orientiert.

Verweise

Hypertext-Software wie etwa moderne Web-Browser bieten eine Menge Funktionen an, die dem Anwender jederzeit eine Neu- oder Rückorientierung ermöglichen. Innerhalb eines Hypertextangebots darf ein Anwender jedoch auch erwarten, dass projektinterne Möglichkeiten zur Neu- und Rückorientierung angeboten werden. Der Schlüssel dazu sind projektinterne Verweise (Hyperlinks), die eine bestimmte Funktion übernehmen.

Navigationsverweise

Navigationsverweise sind Verweise, die sich in unterschiedlichen Inhaltseinheiten wiederholen und dadurch aus Sicht des Anwenders „zuverlässig verfügbar“ sind. In der Regel wird eine Navigation aus einer Reihe von Verweisen gebildet. Das Verweis-Set einer Navigation ist als eigener Block vom eigentlichen Inhalt einer Inhaltseinheit gut erkennbar getrennt. Die darin enthaltenen Links stehen nicht im Kontext der gerade aufgerufenen Inhaltseinheit, sondern im Kontext des gesamten Hypertextangebots.

Im Ur-Konzept von Hypertext sind Navigationslinks nicht vorgesehen. Dort gibt es nur Inhalte und Links zu anderen Inhalten, also reine Assoziation zwischen Inhalten. Dieses Konzept ist jedoch zu radikal und überfordert die Anwender. Das Konzept der Inhalts-Navigation zusätzlich zu den rein assoziativen, kontextabhängigen Links im Inhalt hat sich in der Hypertext-Praxis als erfolgreicher erwiesen.

Die Hypertext-Praxis, besonders die mittlerweile zahlreich gesammelte Praxis bei Webseiten, hat auch verschiedene Arten von Navigationen hervorgebracht. So lassen sich beispielsweise statische Navigationen und dynamische Navigationen unterscheiden. Statische Navigationen bestehen aus immer den gleichen Verweisen in der gleichen Anordnung. Dynamische Navigationen haben zwar einen wiedererkennbaren Aufbau, doch können die angebotenen Verweisziele wechseln. Statische Navigationen eignen sich als Hauptnavigation, um zentrale Übersichten jederzeit aufrufen zu können. Dynamische Navigationen treten dagegen in Formen wie dem sogenannten Breadcrumb-Pfad („Brotkrümelpfad“), in Form von Vor/Zurückblätter-Leisten oder in Form spezieller Listen (dem Inhalt zugeordnete Kategorien, oder „andere Inhalte, die hierhin verlinken“).

Auf modernen Websites sind Navigationen längst nicht mehr wegzudenken. Obwohl sie technisch nicht anders als assoziative Verweise im Text realisiert werden, haben sie auf den Anwender eine völlig andere Wirkung. Zur Kunst des guten Webdesigns gehört deshalb auch, dem Anwender Navigationsbereiche als solche deutlich erkennbar zu machen. Die Navigation gibt ihm Halt und hilft ihm, sich eine Vorstellung vom Gesamtangebot der Website zu machen.

Verweise im Inhalt

Auch Verweise im Inhalt lassen sich so anordnen oder gestalten, dass sie dem Anwender mehr Orientierung bieten. So hat sich die erkennbare Unterscheidung von Links zu externen Zielen und Links zu projektinternen Zielen als sinnvoll erwiesen. Gerade weil moderne Websites sehr unterschiedlich gestaltet sind, zwingt ein externer Link den Anwender in der Regel zu einer kompletten Neuorientierung. Das ist er zwar beim Surfen im Web gewohnt, aber dennoch profitiert er davon, wenn er bereits vor dem spontanen Ausführen eines Links darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass das Verweisziel vermutlich eine Neuorientierung erfordert. Das Gleiche gilt für Verweise, die zu Inhalten führen, die nicht im Browser angezeigt werden können, sondern für die der Browser eine externe Anwendung starten muss, oder die er nur zum Download anbieten kann.

Problematisch ist weiterhin eine zu starke Anhäufung von Verweisen mitten im Text. Es stört das Textverständnis immens, wenn jedes zweite Wort eines Satzes anklickbar ist. Eine mögliche Lösung besteht darin, die Verweise in einen vom Text separierten, aber immer noch in seiner Nähe platzierten Bereich auszulagern.

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