Inhaltseinheiten
Das „Neue“ an Hypertext ist nicht die elektronische Form, also nicht die Tatsache, dass Computer derzeit die am ehesten geeignete Hardware liefern. Auch lineare Inhalte lassen sich am Computer konsumieren. Das Neue an Hypertext ist nicht einmal, dass Hypertext Verweise enthalten. Auch herkömmliche, linear orientierte Inhalte enthalten Verweise. Das Neue ist allein, dass Verweise dank der Computertechnik sofort ausführbar sind, und dass dadurch Verweisziele sofort abrufbar sind. Diese Tatsache ist eigentlich trivial, aber doch entscheidend. Denn sie verändert die Art, Inhalte zu strukturieren.
In linearen Medien sind Verweise ein gut gemeintes Angebot, aber ihnen zu folgen, ist mehr oder weniger mühsam. Es ist bei solchen Medien nicht die Regel, dass Verweisen gefolgt wird. Deshalb sind die Inhalte an Verweiszielen in linearen Medien in der Regel auch nicht darauf eingerichtet, sich als potentielles Verweisziel zu präsentieren. Sie stehen stattdessen im Kontext der linearen Struktur, ohne Rücksicht darauf, woher ein Leser kommt.
Bei Hypertext ist das anders. Wegen der leichten Ausführbarkeit von Verweisen muss sich jedes potentielle Verweisziel so präsentieren, dass es von ganz verschiedenen „Quellen“ her gesehen ein sinnvoller, verständlicher und den Leser hoffentlich weiterbringender Inhalt ist. Deshalb gibt es bei allen Hypertext-Konzepten einen wichtigen Grundbegriff, den wir hier als Inhaltseinheit bezeichnen. Gemeint ist damit ein Inhalt, der sich selbst darüber bewusst ist, von ganz verschiedenen, ihm nicht bekannten Stellen aus gesehen ein sinnvolles Verweisziel zu sein.
Es gibt übrigens zahlreiche andere Bezeichnungen für solche Inhaltseinheiten: z.B. node, unit, item, document, card, information blocks, frame, statement, message, article, hyper-molecule oder guideline (all diese Bezeichnungen wurden vor allem durch Hypertext-Softwareprodukte der Vergangenheit geprägt).
Thematische Geschlossenheit von Inhaltseinheiten
Ein Inhalt, der „weiß“, dass er von ganz verschiedenen, ihm unbekannten Stellen aus gesehen ein brauchbares Verweisziel sein kann, darf so wenig wie möglich implizite Bezüge zu Inhalten außerhalb seiner selbst enthalten. Implizite Bezüge sind z.B. stillschweigende Voraussetzungen darüber, was ein Leser zuvor bereits gelesen hat. Oder Anspielungen „zwischen den Zeilen“ auf Inhalte, von denen angenommen werden darf, dass der Leser sie vorher bereits gelesen hat. Aber auch Formulierungen der Art „wie schon früher bemerkt“, die sich auf Inhalte außerhalb einer aktuellen Inhaltseinheit beziehen, sind meistens ungeeignet.
Inhaltseinheiten in einem Hypertext-Umfeld müssen also versuchen, inhaltlich möglichst in sich geschlossen zu sein. Die Forderung nach inhaltlicher Geschlossenheit ist jedoch erst die eine Hälfte. Die andere Hälfte ist das Gegenteil, nämlich die Forderung nach Vernetzung mit anderen Inhaltseinheiten.
Vernetzung von Inhaltseinheiten
Während implizite Bezüge in Inhalten eines Hypertext-Umfelds problematisch sind, sind explizite Bezüge umso wichtiger. Explizite Bezüge sind sichtbare Hinweise, die in den Inhalt eingefügt sind oder ihn umgeben. Im Computer, wo Inhaltseinheiten adressierbar sind, werden solche Hinweise zu ausführbaren Verweisen — Hyperlinks. Durch ausführbare Hyperlinks zu anderen Inhaltseinheiten kann eine Inhaltseinheit alle gewünschten gedanklichen, thematischen, logischen Rück- und Querbezüge zu anderen Inhalten herstellen. Hyperlinks treten damit an die Stelle von impliziten Bezügen.
Indem jede Inhaltseinheit explizite Bezüge zu anderen Inhaltseinheiten herstellt, entsteht unter den Inhaltseinheiten ein Netz. Das Setzen von Hyperlinks wird damit ein Teil des Erstellens von Inhalten. Die Verlinkung verlangt von Hypertext-Autoren die gleiche Aufmerksamkeit und Weitsichtigkeit wie das Strukturieren und Ausformulieren von Inhalten.
Strukturierte Hypertext-Netze
Nun neigen von Menschen geschaffene Netze dazu, kein chaotisches Verbindungsgewirr zu bleiben, sondern Struktur anzunehmen. Zunächst entstehen Überlandstraßen zwischen Orten. Doch früher oder später entstehen auch Fernstraßen, die nicht durch Orte führen, obwohl ihre Benutzer letztlich zu Orten wollen. Stattdessen erleichtern sie es, im Straßennetz einfacher von einem Ort zu einem anderen, weit entfernten Ort zu gelangen. Genauso ist es bei Hypertext-Netzen. Dort entstehen alsbald Inhaltseinheiten, die gar keinen Inhalt im eigentlichen Sinne haben. Stattdessen fungieren sie als Übersichtsseiten oder Verbindungsseiten, die vorwiegend aus Verweisen bestehen. Das Netz nimmt dadurch eine baumartige Struktur an, im Englischen als „Outline“ bezeichnet, die letztlich wieder an die klassische Buchgliederung in Teile, Kapitel, Abschnitte usw. erinnert.
Andere Hypertext-Netze sind dagegen eher so strukturiert wie eine relationale Datenbank. Da gibt es beispielsweise Inhaltseinheiten, die Spielfilme beschreiben, und andere Inhaltseinheiten, die Kurzbiographien zu Schauspielern enthalten. Bei dieser Konstellation kann jede Inhaltseinheit einer Spielfilmbeschreibung eine Liste der im Spielfilm mitwirkenden Schauspieler enthalten, deren Einträge als Hyperlinks ausführbar sind. So kann ein Anwender über Informationen zu Spielfilm A schnell zu Informationen über Schauspieler A gelangen. Die Informationseinheiten zu Schauspielern können wiederum eine Liste aller Spielfilme anbieten, in denen der Schauspieler mitwirkt, und in dieser Liste sind alle Spielfilme als Hyperlinks ausführbar. So kann der Anwender von Informationen über Schauspieler A schnell zu Informationen über Spielfilm B gelangen, von dort zu Informationen über Schauspieler C usw.
So könnte die Visualisierung eines Netzes aus Inhaltseinheiten aussehen — Quelle: Wikimedia
Der Vorteil von Hypertext ist, dass es keine unumstößlichen Vorschriften für die Vernetzungsstruktur gibt. Ein strukturiertes Hypertext-Netz muss weder eine strenge Baumstruktur noch eine strenge Gitternetzstruktur aufweisen. Es wird sich tendenziell an solchen Netztypen orientieren, weil diese Arten, Zusammenhänge herzustellen, dem menschlichen Denken entspringen. Doch es gibt bei echtem Hypertext keinen technisch bedingten Zwang, sich an einen bestimmten Netztyp zu binden.
Hyperlinks
Prinzipiell besteht Hypertext aus nichts anderem als aus:
- Inhaltseinheiten,
- Adressen für Inhaltseinheiten, und
- Links, die andere Inhaltseinheiten adressieren.
Auch das World Wide Web ist so konzipiert. Im Web ist eine Webseite die typische „Inhaltseinheit“. Webseiten besitzen Adressen, die URIs genannt werden. Für die Inhalte von Webseiten gibt es eine Standard-Auszeichnungssprache, nämlich HTML. HTML ermöglicht das Erstellen und Strukturieren von Inhalten und bietet außerdem die Möglichkeit an, Hyperlinks auf andere URIs zu setzen.
Links in der Praxis
Alle Hyperlinks tun letztlich das Gleiche, nämlich einen ausführbaren Link anzubieten, mit dem die Adresse einer anderen Inhaltseinheit verknüpft ist. In einem strukturierten Hypertext-Netz kommt es jedoch schnell dazu, dass Links bestimmte Aufgaben wahrnehmen. Ein Blick auf eine typische Webseite zeigt dies. Dort findet man beispielsweise:
- Links, die zu einer Navigation gehören.
Die Navigation erscheint auf allen Webseiten einer Website in einem einheitlichen Erscheinungsbild an der gleichen Stelle. Je unterschiedlicher das Gesamtangebot der Website ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Webseite in der Navigation Links enthält, die praktisch nichts mit dem konkreten Inhalt der Webseite zu tun haben. Denn die Links der Navigation stehen nicht im Kontext der aktuellen Webseite, sondern im Kontext der gesamten Website. Dadurch werden solche Links aus dem Kontext der Inhaltseinheiten, in denen sie vorkommen, deutlich herausgelöst, obwohl sie noch Teil davon sind. - Links, die zu einem sogenannten Breadcrumb-Pfad („Brotkrümelpfad“) gehören.
Links mit dieser Aufgabe bilden eine erkennbare Hierarchie ab, die dem Anwender zeigt, wo eine aktuelle Webseite im Gesamtzusammenhang der Website gedanklich platziert ist. Links in Breadcrumb-Pfaden sind benutzerfreundliche Bestandteile in Hypertext-Netzen, die eine baumartige Netzstruktur aufweisen. Links, die zu einem Breadcrumb-Pfad gehören, sind jedoch ähnlich wie Navigationslinks aus dem eigentlichen Inhalt herausgelöst und nehmen die Standardaufgabe einer gedachten Hierarchie-Abbildung wahr.
Obwohl also Links aus technischer Sicht alle das Gleiche tun und den gleichen Aufbau haben, so erscheint es Benutzern einer Webseite oft so, als ob da grundverschiedene Arten der Verlinkung vorkommen. Im Web gehört es zur Kunst des guten Webdesigns, Webseitenoberflächen so zu strukturieren, dass Links darin ganz unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen können.
Verlinkungsdichte
Sackgassen sind ärgerlich, wenn man sich als Fremder darin verfährt. Nicht anders ist es bei Inhaltseinheiten eines Hypertextes, die keinen einzigen Ausgang haben, also nicht einen einzigen Link anbieten. Das andere Extrem ist allerdings nicht weniger verwirrend. So gibt es beispielsweise manche Webseiten, die einen Text enthalten, der eigentlich zum Lesen gedacht ist, bei dem jedoch jedes zweite oder dritte Wort ein Hyperlink ist.
Links mitten in einem zu lesenden Text sollten generell möglichst nur so eingesetzt werden, dass für den Lesenden unmittelbar nachvollziehbar ist, was sich hinter dem Link verbirgt. Separat platzierte Links lösen dagegen weniger Stress bei der Informationsaufnahme aus. Eine Navigationsleiste beispielsweise kann ein Anwender während der Informationsaufnahme "innerlich ausblenden", ein anklickbares Wort mitten im gerade gelesenen Text beschäftigt ihn dagegen und sorgt damit für Ablenkung. Allerdings gibt es durchaus Textsorten, bei denen Leser Links im Text erwarten — auch überraschende, so etwa bei Weblogs.
Hyperlinks sind nötig, denn durch sie drückt eine Inhaltseinheit explizit und für den Anwender ausführbar ihre Bezüge zu anderen Inhaltseinheiten aus. Doch nicht jeder nur erdenkliche Bezug muss an jeder nur erdenklichen Stelle einer Inhaltseinheit durch einen Hyperlink explizit gemacht werden. Wenn beispielsweise in einem zusammenhängenden Text, der aus einer Handvoll Absätzen besteht, insgesamt zehnmal ein Wort vorkommt, das einen Bezug zu einem anderen Inhalt herstellen könnte, so genügt es, den Bezug einmal durch einen Link explizit zu machen.
Ähnlich ist es bei „trivialen“ Bezügen. Wenn sich beispielsweise ein Hypertext-Projekt um Tierarten dreht, die vom Aussterben bedroht sind, dann wirkt es eher befremdlich auf einen Leser, wenn in den Texten das Wort „Tierart“ ständig anklickbar ist. Allerdings gibt es auch ähnlich gelagerte Beispiele, die zu einem anderen Ergebnis führen. Wenn beispielsweise in einem enzyklopädischen Hypertext-Projekt in einer Inhaltseinheit über Berlin steht: „Berlin ist die größte Stadt Deutschlands“, so muss es nicht befremdlich wirken, wenn darin das Wort „Stadt“ anklickbar ist, obwohl angenommen werden darf, dass jeder Leser weiß, was eine Stadt ist. In diesem Fall darf angenommen werden, dass dem Leser sofort klar ist, dass das Verweisziel keine billige Worterklärung ist, sondern sich mit Themen wie Stadtentwicklung, Verstädterung usw. befasst.
All diese Aspekte muss ein Autor oder Redakteur, der Hypertextinhalte erstellt oder bearbeitet, in seine Überlegungen und Entscheidungen zur Verlinkung des Inhalts mit anderen Inhalten berücksichtigen.