Hallo,
die Forums-Serie "Thread reloaded" wird heute mit einem Posting aus dem Jahr 2000 fortgesetzt. Neun lange Jahre sind seitdem vergangen, doch keine Veränderung auf der Uhr, um die es hier geht. Der Original-Thread mit allen Diskussionsantworten ist im SELFHTML-Forums-Archiv nachzulesen: The long now - das lange Jetzt
In diesem Fall geht es um etwas, das in unserer schnellebigen Zeit völlig abhanden gekommen zu sein scheint — das Bewusstsein fuer große Zeiträume, eine wichtige Voraussetzung, um so etwas wie Verantwortung fuer spätere Generationen überhaupt haben zu können.
Zur Bewusstseinsbildung kann man viele schlaue Worte reden. Aber oft sind es "sinnfällige" Dinge, die viel mehr zur Bewusstseinsbildung beitragen. So haben beispielsweise die Fotos unserer Erde aus dem Weltall unser Bewusstsein von der Begrenztheit und Verletztlichkeit der Erde vermutlich nachhaltiger beeinflusst als entsprechende wissenschaftliche Abhandlungen.
Das haben sich auch die Initiatoren von "The long now foundation" gedacht, die sich zur Aufgabe gesetzt haben, das Bewusstsein für lange Zeiträume zu schärfen. Neben einem Buch gibt es eine Website (http://www.longnow.org/) — aber um mehr als nur viele Worte zu machen, wollen die Initiatoren eine "Langzeituhr" bauen. Diese Uhr soll nur einmal pro Jahr ticken, alle hundert Jahre soll der Zeiger vorruecken, und alle tausend Jahre soll der Kuckuck rauskommen. Das Bauwerk soll aus extrem beständigen Material entstehen und zu einem Besuchermagneten werden (z.B. wenn der alljährliche Tick ansteht, und erst recht natürlich, wenn der Zeiger vorrückt). Allein schon die Schwierigkeiten, die mit dem Bau einer Uhr verbinden sind, die mit von unserer Zivilisation unabhängigen Mitteln (kein Chip fuer Synchronisation mit Atomuhr usw.) so lange Zeiträume messen kann, dokumentieren, wie schwer wir uns damit tun, Dinge zu realisieren, die wirklich auf Langzeit ausgelegt sind.
Was auch immer man von dem Uhrenprojekt halten mag, an dem unter anderem auch Künstler wie Peter Gabriel und Brian Eno mitwirken — sich über "große Zeiträume" Gedanken zu machen, ist sicherlich ein Schlag ins Gesicht unserer Zeit. Die nämlich hat sich dem exponentiellen Geschwindigkeitsrausch verschrieben: alle paar Monate verdoppeln sich typische Grenzwerte wie die Anzahl der Seiten im Internet oder die Taktrate der Computerprozessoren. Bei 12 Monaten Verdopplungsgeschwindigkeit und einer Messzeit von 10 Jahren 1024facht sich ein solcher Grenzwert in dieser Zeit. Dem "Fortschritt" kann man bereits zugucken, so schnell ist er. Vor zwei Jahren etwa schimpfte noch fast jeder über die Handy's allerorten - mittlerweile hat fast jeder selber eins (das herkömmliche Telefon hat 20 bis 30 mal so lange gebraucht, um sich zu verbreiten). Früher, so sagt jemand aus dem long-now-Projekt, fraßen die Großen die Kleinen, heute fressen die Schnellen die Langsamen. Je schneller aber alles gehen muss, desto mehr schwindet aber eben das Bewusstsein für die großen Zeiträume …
Tja, und worauf will ich eigentlich hinaus mit alledem? Auf nichts Bestimmtes eigentlich. Vielleicht einfach die folgenden Fragen:
- Ist so ein Projekt wie "the long now foundation" und die Langzeituhr nötig, um unser Bewusstsein für lange Zeiträume zu schärfen? Kann man das auch mit anderen Mitteln trainieren?
- Was ist überhaupt ein "langer Zeitraum"? Welche Zeiträume sind für "verantwortungsvolles Denken gegenüber späteren Generationen" eigentlich maßgeblich?
- Ist es möglich, dass unser exponentieller Geschwindigkeitsrausch irgendwann grausam kollabiert? Oder wird er eher in eine neue Dimension übergehen, also etwa in eine Art "Zeitunabhängigkeit" (beliebige Zellerneuerung für Leben, beliebig schnelle Raumüberbrueckung durch Beamen usw.)?
- Kann man "Bewusstsein fuer lange Zeiträume" in die Alltagspraxis umsetzen? (Langsamer sprechen, mehr Zeit zum Antworten lassen, bei Terminnennungen von Auftraggebern milde lächeln ;-)?
- Wenn ihr versuchen wolltet, ein Webprojekt aufzuziehen, dass sich mit dieser Thematik befasst und etwas zum Thema "Langzeitdenken" beitragen wolltet - wie würdet ihr das angehen? Anders ausgedrückt: habt ihr euch auch schon mal um "langfristige Datenhaltung" und dergleichen Gedanken gemacht?
Also - wer mag, kann seinen Gedanken dazu hier freien Lauf lassen ;-)
viele Grüße
Stefan Münz