Hallo,
Dies ist eine neue Serie im Forum. Ich nenne sie Threads reloaded. Darin möchte ich einige meiner früheren Gedanken aus den Tiefen des SELFHTML-Forumsarchivs herauskramen und noch mal neu in den Raum stellen. Jedesmal mit einem kleinen, vorangestellten Intro wie diesem hier. Der erste Thread reloaded wurde im Original am 12.05.2000 gepostet. Die damalige Diskussion kann im SELFHTML-Forumsarchiv nachgelesen werden. Für diesen Blogeintrag wurde das Thread-Ausgangsposting an ein, zwei Stellen leicht geändert (zum Zweck einer klareren Gedankenführung).
Wir befinden uns in einem weltweiten Medium, das zweifellos dabei ist, unsere Erde schneller umzukrempeln als alle technischen Erfindungen vor ihm. Die Überbrückung von Distanzen schrumpft auf den Augenblick zusammen, den es dauert, auf die Maustaste zu klicken. Dadurch kommt sich vieles nahe und durcheinander, was ehemals sauber oder zumindest viel klarer voneinander getrennt war. Menschen, ihre Lebensweisen, Ansichten und Vorstellungen, aber auch ihre Sprachen.
Es gibt eine interessante neue Portalseite fuer Links zu allem, was mit Wörterbüchern, Lexika, automatischen Übersetzungen und linguistischen Spezialanwendungen für bestimmte Sprachen zu tun hat: yourdictionary.com. Wenn man von dort aus auf Entdeckungsreise geht, kann man staunend erleben, wie viele Wörterbuecher es gibt im Netz, die meisten davon mittlerweile durchsuchbar.
Wir haben viele Sprachen auf der Welt. Diese unterschiedlichen Sprachen konnten entstehen, weil Völker, Stämme, Klans usw. ohne oder nur mit sehr wenig Kontakt zu anderen Menschen ihre Kultur und ihren Alltag über Generationen hinweg entwickeln konnten. Es gibt ja unter Linguisten die Theorie, dass alle Sprachen ursprünglich von einer Sprache abstammen. Aber durch vergleichende Sprachwissenschaft ist das wohl kaum beweisbar. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Sprachen, auch wenn es viele Gruppen und Familien gibt.
Noch spannender als die Frage, ob es irgendwann in den Frühzeiten des homo sapiens eine Einheitssprache gab, finde ich allerdings die Frage, ob die Menschheit auf eine solche Einheitssprache wieder zusteuert, und ob ein Medium wie das Internet diese Tendenz begünstigt.
Beobachtbar ist zumindest, dass das Englische sich immer weiter von den übrigen "Weltsprachen" Französisch, Spanisch und Portugiesisch abhebt. Chinesisch hat zwar möglicherweise die meisten Sprecher, aber es hat deshalb trotzdem keine Bedeutung als Weltsprache, denn eine Weltsprache ist eine Sprache, die als Verständigungssprache von ganz unterschiedlichen Muttersprachlern genutzt wird. Immer mehr Menschen aber, die unterschiedliche Muttersprachen sprechen und miteinander zu tun bekommen, sei es beruflich, auf Reisen, oder eben durch das Internet, einigen sich letztendlich auf Englisch als Verständigungssprache. Auch die Häufigkeit, mit der ein Normaldeutscher etwa mit dem Englischen konfrontiert wird, dürfte sich im Laufe der letzten dreißig Jahre vervielfacht haben. War die Ausbildung von Weltsprachen bis vor wenigen Jahrzehnten noch durch die europäische Kolonialisierung der übrigen Kontinente gesteuert, so werden heute zunehmend die Einflüsse des global Business, aber auch der internationalen Wissenschaft und Technik maßgeblich. Und auf all diesen Ebenen hat sich Englisch längst durchgesetzt.
Meine Fragen, die ich nach diesen Bemerkungen mal zur Diskussion in den Raum werfen will, sind folgende:
Wird Englisch den Planeten erobern und andere Sprachen in den Rang von Lokal- und Zweitsprachen zurückdrängen? Ist es z.B. vorstellbar, dass Englisch in 50 Jahren weltweit in fast allen Ländern als Amtssprache eingeführt sein wird, während die herkömmlichen Sprachen dieser Länder etwa auf die Bedeutung zurücksinken, die bei uns die Dialekte haben (liebevoll gepflegt, aber nicht wirklich wichtig)?
Ist es wünschenswert, dass eine Sprache alle anderen verdrängt? Ist damit nicht auch eine Verarmung des Sagbaren verbunden? Wird eine Sprache, die nur zwei, drei Wortvarianten fuer "Schnee" kennt, in einem arktischen Land nicht für schreckliche Sprachverarmung sorgen? Oder geht das gar nicht? Könnte es nicht vielmehr so kommen, dass sich zwar eine Sprache durchsetzt, diese aber lokal extrem "koloriert" wird, so dass Sprachvarianten entstehen, die doch schon fast wieder eigene Sprachen sind?
Und welche Rolle spielt eigentlich der Einfluss der geschriebenen Sprache? Durch das Internet ist der Anteil schriftlicher Kommunikation zwischen Menschen extrem angestiegen. Neue, sprachrelevante Bausteine wie Smileys und Emoticons sind die sichtbaren Folgen. Könnte es sein, dass die Menschen auch dahin steuern, immer weniger miteinander zu reden und sich immer mehr zu schreiben? Mit den damit verbundenen sprachlichen Folgen wie mehr Symbolzeichen, Abkürzungen, formalen Elementen? So dass am Ende die Leute mehr XML reden als Englisch?
Wie stark verändert das Internet die Sprachenwelt? Nicht mehr als die alte Welt der Zeitungen und Fernsehsender? Oder mehr? Einerseits sind Informationen aller nur erdenklichen Sprachen im Web viel näher als in jedem anderen Medium. Andererseits wächst im Netz aus eben dieser Nähe heraus das Bedürfnis nach Verständigung über Sprachgrenzen hinweg. Was wird die elektronische Nähe bewirken: mehr Interessen für andere Sprachen und Sprachenvielfalt, oder Sprachvereinheitlichung in Richtung Esperanto-Englisch?
viele Grüße
Stefan Münz