Dieses Interview ist im Original in der Zeitschrift sic et non, Zeitschrift für Philosophie und Kultur im Netz, erschienen:
Das Interview wurde von von Thomas Sebestyen & Oliver Krämer via E-Mail geführt.
Das Interview
1. Zunächst haben Sie Philosophie und Sprachwissenschaft studiert, später dann aber eine Umschulung zum Organisationsprogrammierer für C und Unix gemacht. In wiefern beeinflusst Ihr Erststudium - beide Disziplinen befassen sich ja ebenfalls mit Hypertext - Ihre heutige Tätigkeit?
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie mein Zugang zur EDV-Welt ohne den geisteswissenschaftlichen Background ausgesehen hätte. Programmieren und all das hätte ich sicher auch so gelernt. Aber es war der Background, der mich antrieb, das technische Know How kreativ zu nutzen. Ohne den Background hätte ich das erworbene Wissen allenfalls beruflich nutzen können, nicht aber im Sinne von „Berufung“.
2. Seit zehn Jahren betreuen Sie Ihr Großprojekt Selfhtml, das vielen Html-Anwendern als Lehr- und Nachschlagewerk dient. Das Dokument ist nicht nur als Buch, sondern auch als „freeware“ o nline verfügbar. Welche Motivation steht hinter Ihrem Schaffen?
Mittlerweile hat die Motivation zu diesem Projekt bei mir etwas nachgelassen. Natürlich bin ich dem Projekt noch stark verbunden. Doch die eigentliche Arbeit wird längst von einem Entwickler-Team geleistet, das auch Akzente und Ausrichtung des Projekts teilweise neu definiert, und zwar zum Teil anders, als ich es getan hätte. Letzteres stört mich allerdings nicht – es gehört einfach zur Natur von allem, was ein Eigenleben entwickelt, also Geschichte macht und Geschichte hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich SELFHTML nicht von Organisationen, Firmen, Parteien, Herrschergeschlechtern oder ganzen Kulturen.
Meine ursprüngliche Motivation zu SELFHTML war die Überzeugung, dass das, was man Informationszeitalter nennt, mit dem World Wide Web überhaupt erst richtig begann. Ein neues Massenmedium war geboren, das erste, das weder broadcasting-orientiert war wie Rundfunk und Fernsehen, noch punkt-zu-punkt-orientiert wie Telefon. Man konnte darin publizieren, und zwar weltweit, ohne sich Verlegern und ihren Vorstellungen unterwerfen zu müssen. Und man hatte Hypertext-Funktionalität, also die Möglichkeit, Links zu setzen.
Da von SELFHTML als einer führenden und vielkonsultierten Dokumentation eine hohe technische Detailgenauigkeit bei der Wiedergabe und Beschreibung einzelner Features erwartet wird, ist die Dokumentation selber heute für mich als Sprachrohr meiner Ideen und Gedanken nicht mehr so geeignet. Ein neues Sprachrohr habe ich allerdings noch nicht – was freilich auch daran liegt, dass Änderungen, die sich in meinem Privatleben ergeben haben, mir nicht mehr so viel Zeit lassen, wie nötig wäre, um etwa ein Blog oder etwas Vergleichbares zu unterhalten.
3. Wie sehen Sie heute, in Angesicht von Schlagwörtern wie z.B. E-Learning, Informations-Retrival, Content-Syndication, die Entwicklung des World Wide Webs bzw. welche Tendenzen im heutigen Web entsprechen aus Ihrer Sicht am ehesten noch den Ur-Gedanken desselben?
Tim Berners Lee, der Gründervater des Web, stellte sich ja interessanterweise ein von allen Benutzern editierbares Web vor. Will heißen, jeder, der eine Webseite liest und etwas daran verbessern oder ergänzen kann, sollte dies einfach tun können. Natürlich war das ein sehr idealistischer Gedanke, der lauter wohlmeinende, konstruktive Benutzer voraussetzt.
Marc Andreessen, der Entwickler des Browsers Netscape, durch den Mitte der 90er Jahre der Boom des Web und des Internet erst richtig ins Rollen kam, wollte von solchen idealistischen Vorstellungen nichts wissen. Sein Software-Produkt war ein reiner Browser, nicht zugleich ein o nline-Editor. Diese Ausrichtung sorgte dafür, das Tim Berners Lee's ursprüngliche Gedanken in ein Web mündeten, das eher präsentationsorientiert war und dem Benutzer am Ende wie ein Sternenhimmel voller isolierter Präsenzen, Projekte und Portale erschien – so, wie wir es ja auch heute noch kennen.
Immerhin war das Web technisch so flexibel, dass darin so ziemlich alles möglich war und ist – auch das, was Tim Berners Lee ursprünglich vorschwebte. Erfolgreich wurde das Konzept jedoch nicht wie von Berners Lee angedacht unter dem Schlagwort „World Wide Web“, sondern unter dem Schlagwort „Wiki“, einem von vielen neueren Schlagwörtern innerhalb des Web. Das weltweit größte Wikisystem, die Wikipedia, halte ich für das spannenste Webprojekt der Gegenwart, einfach deshalb, weil es gigantische Ausmaße erreicht hat, aber nach wie vor funktioniert und die Idee des von allen editierbaren, hypertextorientierten Web atmet. Das einheitliche Seitenlayout, das hinter seinen Zweck zurück tritt, der Wille zum Vermitteln von frei verfügbaren Inhalten, die hohe Verlinkungsdichte, die freilich an manchen Stellen auch übertrieben und kontraproduktiv ist, die unkomplizierte und einladende „Mitmach-Schnittstelle“, die um das Projekt gewachsene Gemeinde der Wikipedianer – all das ist doch sehr nah am Mittelpunkt einer Welt, die sich im Informationszeitalter befindet. Vielleicht wird die Wikipedia später sogar einmal historisch als Inbegriff dieses Zeitalters gelten.
4. Ihre Publikation Hypertext von 1997 befasst sich ausgiebig mit der Entwicklung und Geschichte von Hypertext und stellt einschlägige Forschungsansätze vor. Welche Veränderungen konnten Sie während der letzten Jahre beobachten, welche neuen Erkenntnisse hält die Forschung bereit?
Mit neueren Trends der wissenschaftlich akademischen Erforschung von Hypertext habe ich mich nicht mehr auseinander gesetzt. Deshalb kann ich nur meine eigenen Beobachtungen wiedergeben.
Sowohl in meiner als auch in der Vorstellung anderer, die sich mit dem Thema befassten, verband sich mit dem Begriff zunächst die diffuse Vorstellung eines erweiterbaren und verdichtbaren Gitternetzes, bestehend aus fixen informatischen Atomen und ihren Verbindungen, realisiert durch Hyperlinks. Häufig weitergegeben wurde der Gedanke, dass sich über wenige, semantisch durchaus plausible Links praktisch alles mit allem in Beziehung bringen lasse, zum Beispiel Atombomben und Hibiskusblüten. Der Aspekt des Information Retrieval stand also im Vordergrund.
Angesichts der hohen Effizienz von Suchmaschinen wie Google oder von durchsuchbaren Mega-Anbietern wie EBay lassen sich heutige Web-Benutzer jedoch kaum noch durch individuelle Linkketten leiten. Es wird vorzugsweise gezielt gesucht und gefunden. Auch innerhalb eines geschlossenen Hypertextdokuments wie etwa SELFHTML werden Inhalte meist entweder über die thematisch hinführenden Standardlinks (also eine Art anklickbares Inhaltsverzeichnis) gefunden, oder über die integrierte Suche. Das klassische Hypertext-Konzept eines Netzes aus irgendwelchen Topics, in das man an jeder Stelle einsteigen kann, und innerhalb dessen man dank intensiver Linkvernetzung schnell seine individuellen Pfade zum gewünschten Ziel finden kann, hat sich demgegenüber nicht als praktisch erwiesen.
Eine aktuelle Betrachtung sollte daher Hypertext nicht mehr so sehr als Mittel zum Information Retrieval begreifen, also als Mittel zum Auffinden von gesuchten Inhalten. Unter Hypertext möchte ich vielmehr das intelligente Gesamtkonzept eines potentiell unendlich großen elektronischen Informationsraums verstanden wissen. In einem solchen Gesamtkonzept ist das Information Retrieval, das heute vor allem von Suchmaschinen bedient wird, nur einer von mehreren Faktoren. Ein anderer wichtiger Faktor ist die Zugangssoftware, im Web also der Browser. Bookmarks, History, Sidebars, Browsing-Tabs und vieles mehr gehört zur erforderlichen Anwendungsoberfläche eines modernen, produktiv nutzbaren Browsers. Mitwirkende im Gesamtkonzept sind aber auch Webdesigner und Entwickler von Webanwendungen. Nur wenn sich alle Faktoren ergänzen, entsteht ein Hypertext-Web. Im World Wide Web ist heute das W3-Konsortium die Zentrale des Gesamtkonzepts. Innerhalb von Wikipedia ist es die Wikimedia Foundation, ergänzt durch ein Heer aus engagierten Wikipedianern. Solche konzeptionellen Kräfte, welche offene Standards setzen, an die sich alle Beteiligten freiwillig halten, sind die Schaltzentralen eines modernen Hypertextraums.
5. Im Abschnitt Browsing, Authoring desselben Dokuments unterscheiden sie zwischen „hyper-intelligenten“ und „normal-intelligenten“ Autoren, die an Hypertexten arbeiten. Was zeichnet für Sie einen hyper-intelligenten Autor aus?
Der Ausdruck ist sicherlich etwas provokant, da er suggeriert, Hypertext sei eine feine Sache, aber noch seien wir – zumindest als Autoren – alle zu blöd dafür. Gemeint ist ein permanenter Blick für ein eigentlich gar nicht übersehbares Ganzes. Denn einzelne Informationseinheiten lassen sich innerhalb von Hypertext nur im Kontext des informationellen Gesamtraums gesehen optimal gestalten. Innerhalb eines in sich geschlossenen Subraums, wie es etwa bei einer größeren Dokumentation wie SELFHTML der Fall ist, stellt dieser geforderte Blick fürs Ganze keine größere Herausforderung dar als etwa beim Schreiben eines vergleichbar umfangreichen Buches. Den „Gesamtraum Web“ als ganzes im Blick zu haben ist dagegen praktisch nicht menschenmöglich. Dennoch wäre genau das erforderlich, wenn das Web als Ganzes ein einziges großes Hypertextgebilde sein sollte.
Das Web hat sich also als zu groß für Hypertext-Authoring erwiesen. Wie schon zuvor beschrieben, besteht das Web heute vorwiegend aus isolierten Präsenzen und Projekten, die ohne Bewusstsein für das Ganze des Web erstellt wurden. Viele maßgebliche Mitgestalter, darunter auch Werbeagenturen, die massenhaft Firmenpräsenzen wie Hochglanzprospekte gestaltet haben, statt das eigentliche Potential des Web zu nutzen, haben zu dieser Situation mit beigetragen. Das Web ist zwar potentiell ein Hypertextraum, der auch als solcher konzipiert ist, doch in der heutigen Praxis erscheint das Web eher wie ein Telefonbuch aus Domainnamen, also nichts besonders Intelligentes. Nur in mehr oder weniger großen Projekten innerhalb des Web wird Hypertext-Authoring erfolgreich praktiziert. Wikipedia habe ich als prominentestes Beispiel bereits genannt.
6. Verlangen Hypertexte, insbesondere Hyperfictions, nicht auch nach einem „hyper-intelligenten“ Rezipienten, der um den Code wissend den jeweiligen Text dann auch voll nutzen, interpretieren und verstehen kann?
Das Thema Hypertext und „schöne Literatur“ ist auch nach mehreren Jahren Hypertext-Theorie noch ein ziemlich unbeackertes Gebiet. Nur einzelne, meist etwas verkrampft wirkende Versuche hat dieses Feld bislang hervorgebracht. Versuche etwa, eine spannende Geschichte zu erzählen, die aber aus lauter ablenkenden Hyperlinks besteht, müssen einfach scheitern. Denn eine spannende Geschichte verlangt einen Erzähler und seinen Erzählfluss. Als Rezipienten einer solchen Geschichte wollen wir uns dem Erzähler verheißungsvoll anvertrauen, seine Stimme oder seine geschriebenen Sätze nur noch als ein Medium wahrnehmen, das uns in die erzählte Welt entführt. Ein Hyperlink ist da nichts weiter als die perfekte Störung, allenfalls noch als klassischer brechtscher Entfremdungseffekt zu rechtfertigen, an dem jedoch nur ein ziemlich kleines, linksintellektuelles Minderheitenpublikum Gefallen findet, das längst nicht mehr für sich in Anspruch nehmen kann, definieren zu wollen, was Literatur zu sein hat.
Damit Hyperfiction wirklich funktioniert, muss das Verhältnis zwischen Erzähler und Rezipient schlichtweg aufgelöst werden. Im Grunde müssen sich solche Geschichten nur an den bereits bewährten Rollen- und Strategiespielen im Internet orientieren, und nicht mehr an autorenorientierter Literatur. Am Computer ist man kein Rezipient, sondern Benutzer, und ein Bildschirm ist ein denkbar schlechter Erzähler. Man muss am Geschehen teilnehmen können, damit sich der Zauber des Eintauchens in die Erzählwelt funktioniert. Hyperfiction, aus Autorensicht gedacht, ist also kein Erzählen einer Geschichte mehr, sondern das programmiertechnische Schaffen einer Umgebung mit Inhalten, Vorgaben und Regeln, innerhalb deren sich die Benutzer freiwillig gerne bewegen, weil sie dort handeln können. Dazu werden Storyboard-Schreiber benötigt, die „literarisch wertvolle“ Handlungsräume, Handlungsrahmen und Basischaraktere für den Mehrbenutzerbetrieb erschaffen, vielleicht ein Sanatorium nach Art von Thomas Manns Zauberberg, oder ein futuristisches Ordinariat wie in Hesses Glasperlenspiel. Weiterhin werden Software-Entwickler aus der Spielebranche benötigt. Und schließlich muss noch gewartet werden, bis die literarischen „Geister“ so weit sind, sich vom Buch als alleiniger literarischer Quelle zu lösen, und die neben Text auch Grafik, Video und Sound als zulässige Mittel der Literatur akzeptieren.
7. Viele Autoren entdecken Hypertext als neue Form des Schreibens für sich. Aber auch die Kritik am Internet und insbesondere am literarischen Hypertext hat in den letzten Jahren zugenommen. So sagte z.B. Hermann Rotermund in seiner Laudatio zum 2. Internet-Literaturwettbewerb 1997 “Er ist im Netz der Netze noch nicht aufgetaucht, der o nline-„Ulysses“. […] Der Orson Welles, der Dylan Thomas oder die Ingeborg Bachmann des Internet scheinen noch nicht aufgetaucht zu sein.“ www.weisses-rauschen.de/hero/97-10-laudatio.html
Inwieweit hängen wir Ihrer Meinung nach noch heute an den Textdarstellungs- und Rezeptionsprogrammen unser Schrift- und Buchkultur und welche Auswirkungen hat dies für das Design von Software (z.B. Browser) und Webseiten?
Ein Welles, ein Thomas und eine Bachmann werden auch nicht auftauchen im Netz. Sie entspringen der Autoren- und Rezipientenkultur des klassischen bürgerlichen Buchmarkts. Ins Internet transferieren lässt sich davon vor allem der wirtschaftliche Aspekt, wie die Erfolgsgeschichte von Amazon zeigt, und vielleicht noch ein wenig direkter Austausch zwischen Autor und Leser. Mehr aber auch nicht. Das Internet ist ein Medium mit eigenen Gesetzen. Während der Laudator eines „Internet-Literaturwettbewerbs“ sein Bedauern zum Ausdruck bringt, zocken Tausende stundenlang ermüdungsfrei mit ihren Mäusen und Tastaturen, um ihren „Charakter“ in ihrem Lieblingsrollenspiel voran zu bringen. Hüter des bildungsbürgerlichen Schatzes neigen dazu, diese gesamte „Kultur“ als Primitivunterhaltung abzutun, weil viele dieser Spiele martialisch sind. Vielleicht wird sich jedoch herausstellen, dass eben diese Spiele der konzeptionelle, ins elektronische Informationszeitalter passende Nachfolger der klassischen Literatur sind. Was mit martialischen Gestalten und Umgebungen funktioniert, kann ebensogut mit literarisch salonfähigen Gestalten und Umgebungen funktionieren.
Aber nicht nur in der Welt der fiktionalen Literatur, sondern auch im Bereich gewöhnlicher Sach- und Gebrauchstexte wirken 1:1-Transfers aus der klassischen Papierwelt ins Internet meist störend auf die Anwender. Das liegt vor allem daran, dass das Auge am Bildschirm normalerweise nicht zu lesen beginnt, sondern erst einmal den Bildschirminhalt scannt, um davon abhängig weitere Aktionen abzuleiten. Der Bildschirm ist nämlich eigentlich ein Feedback-Instrument für Aktionen am Computer, und hat damit einen völlig anderen Zweck als etwa Papier. Sicherlich sind Anwender bereit, auch mal hundert Zeilen Text am Stück am Bildschirm lesen, wenn der Text ihr Interesse weckt. Die Regel verlangt jedoch, dem typischen Anwenderverhalten am Bildschirm, also dem Scannen, entgegen zu kommen.
Für die Gestaltung von Webseiten bedeutet das vor allem: klare optische Trennung funktional unterschiedlicher Teile, also von Navigation und Text, von Kopfinformation und Text, von Kopfinformation und Navigation, von Text und Zusatzinformation. Aber auch Vermeidung endlos langer Textrollen, Aufteilung in frei navigierbare Inhaltseinheiten. Wenn Grafik oder Multimedia tausend Worte ersetzen können, sollten sie auf Webseiten eher zum Einsatz kommen als die tausend Worte (allerdings auch nur dann).
Erst wenn der Anwender sich auf einer angezeigten Seite leicht zurecht findet, ist er bereit, sich mit dem Inhalt auseinander zu setzen. Eine Website hat mehr von einer Applikation als von einem Buch. Es gibt keine Leser von Webseiten, es gibt nur Anwender. Es kann vorkommen, dass solche Anwender länger auf einer Webseite verweilen und etwas lesen – aber das geschieht erst sekundär.
8. George P. Landow äußerte 1997 in seinem Buch zum Hypertext (The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology) die These einer wechselseitigen Bereicherung von Literaturtheorie und Hypertext. Er meint, die Literaturtheorie verspreche, den Hypertext zu theoretisieren und der Hypertext verspreche, bestimmte Aspekte der Literaturtheorie zu verkörpern und dadurch zu testen. Geben aus Ihrer Sicht die Entwicklungen der letzen Jahre im Web eine Bestätigung dieser These oder ist eine Debatte um „Literatur im Netz" versus "Netzliteratur“ nach wie vor aktuell?
Im Internet bilden sich neue, eigene Textkulturen heraus, wie etwa die Blogs. Obwohl diese von der Idee her an das gute, alte Tagebuch angelehnt sind, erhalten sie durch die Echtzeitpublizität eine ganz andere, eigene Qualität, die an Speakers' Corner im Londoner Hyde Park erinnert. Selbstverständlich sind solche im Netz entstandenen Kulturen literaturtheoretisch relevant. Und umgekehrt lassen sich aus der theoretischen Betrachtung erfolgreicher Texte im Netz Hypothesen für die erforderliche Beschaffenheit erfolgreicher Netztexte ableiten. Solange die Literaturtheorie allerdings jenem traditionellen akademischen Umfeld verhaftet bleibt, in dem ein Dozent nur nach der Anzahl seiner ISBN- und ISSN-Einträge gemessen wird, sehe ich keine Basis für eine Begegnung von Theorie und Praxis innerhalb des Internets.
9. Viele neuere Entwicklungen wie Wikis, Blogs, Foren etc. erleichtern das Publizieren im Internet, aber sie tragen auch dazu bei den bisherigen Begriff des Autors aufzulösen. Wie Roland Barthes schrieb: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.". Wie sehen Sie diese Frage der traditionellen Rollen „Leser“ und „Autor“ im heutigen Web?
Es kommt zwar wie schon gesagt häufig vor, dass am Bildschirm auch mal gelesen wird. Doch primär befindet sich derjenige, der vor dem Bildschirm sitzt, nicht in der Rolle eines traditionellen Lesers, sondern in der Rolle eines Computeranwenders. Seine Rolle besteht darin, mit einer programmierten Umgebung zu interagieren, um etwas zu erreichen oder sich zu unterhalten.
Ob das Verhalten von Computeranwendern durch Konzepte wie das selbstbestimmte Handeln im Sinne marxistisch geprägter Theorie erklärbar ist, wage ich allerdings zu bezweifeln. Die meisten Menschen, die heute wie selbstverständlich in Mailinglisten, Newsgroups oder Foren diskutieren, Blogs schreiben oder an anderen Formen von Textkultur im Internet teilnehmern, empfinden dies gar nicht als revolutionäre Befreiung von einer traditionellenen, als unmündig erkannten Rollenverteilung. Sie tun es einfach und haben ihren Spaß daran, Autor und Leser zugleich zu sein. Ihnen selber fehlt also das historische Bewusstsein, Teil einer Revolution zu sein. Man sollte eher von einer evolutionären Entwicklung reden.
10. Haben Sie persönliche „Lieblings-Hypertexte“ und wenn ja, was zeichnet diese Texte oder Seiten für Sie im Besonderen aus?
Ich lese nach wie vor gerne in Foren. Aktiv teilnehmen tue ich allerdings nicht zur Zeit. Am liebsten mag ich Foren, die richtige „Arenen“ sind, so wie das SELFHTML Forum oder die Newsgroups. Gegen den Typus der flachen, tabellarischen und wie ein Apothekerschrank in tausend Schublädchen aufgeteilten Boards hege ich nach wie vor eine Abneigung.
Zum ziellosen Surfen benutze ich mittlerweile am liebsten die Wikipedia-Startseite als Ausgangspunkt. Allerdings gehört zielloses Surfen nicht zu meinen regelmäßigen Aktivitäten. Daneben habe ich noch eine Reihe fachlich wichtiger RSS-Newsfeeds abonniert, um in meinem Bereich auf dem Laufenden zu bleiben.
Die meiste Zeit am Computer verbringe ich allerdings eher damit, Webanwendungen zu erstellen, sowie Bücher über das Web, sonstige Texte wie dieses Interview oder E-Mails zu schreiben.