Interview Sagmal 2000

Dieses Interview ist im Original auf der Website von sagmal.de erschienen:

Das Interview wurde am 21.4.2000 in Form eines E-Mail Interviews geführt. Die Fragen stellte Robert Herbig, Webmaster von sagmal.de.

Das Interview

sagmal.de:
Stefan, du bist im Netz als der Guru des HTML bekannt. Wie lebst du damit ? Ich nehme an, du kannst nicht mehr über das Gelände der Cebit laufen, ohne Autogramme zu geben ? Ist das schon störend, oder lässt sich das Ganze noch ertragen ?

Stefan Münz:
So weit kommt es bei mir nicht. Ich laufe erst gar nicht über das Gelände der Cebit, weil Marktschreierei generell nicht so mein Fall ist, und weil ich mich überhaupt nicht als Guru in der Computerszene empfinde. Tausend Leute können besser programmieren als ich, und tausend Leute kennen mehr Tricks beim Webseitenbasteln als ich. Ich bin lediglich so etwas wie ein massenhafter Anstifter, ein Web-Missionar vielleicht. Eine eher geistig-seelisch-moralische Aufgabe also, das wird immer deutlicher, je größer meine Klientel bzw. die von SELFHTML wird. Wegen meines technischen Wissens gibt es schon lange keinen Grund mehr, mich zu bewundern. Wenn ich Anerkennung suche, dann eher durch "aufklärerische" Arbeit, aber sicher nicht durch technisches Genie. Es wird halt immer deutlicher, daß ich eigentlich Geisteswissenschaftler bin … und solchen Leuten gegenüber hält sich glücklicherweise auch die Autogrammjägerei in Grenzen ;-)

sagmal.de:
Mit deiner Aktion: "Gemeinsam gegen den Abmahnwahn", den du in Zusammenarbeit mit Uschi Hering von Freedom for Links gestartet hast, soll ein Grundsatzurteil gegen die Praktiken verschiedener Abmahner gestartet werden. Du bist ja nun auch selbst davon betroffen. Kannst du uns etwas mehr darüber sagen ?

Stefan Münz:
Auch diese Aktion - oder besser gesagt, engagierte Reaktion - paßt in die bereits angesprochene Rolle als Web-Aufklärer. Ich kann und will nicht bis in alle Ewigkeit nur gefragt werden, mit welchem Befehl man zwei Frames gleichzeitig ändern kann. Ich habe in HTML und seinen ergänzenden Sprachen immer schon mehr gesehen als eine Ansammlung von Befehlen, um irgendwie buntes Zeug übers Internet auf die Bildschirme zu bringen. Es handelt sich vielmehr um einen geistigen Fortschritt der Menschheit, um einen Sprung, vergleichbar dem des Buchdrucks. Leider haben das unsere rechtssprechenden Organe noch nicht mitbekommen, und unsere Gesetzgeber erst recht noch nicht. Für die sind Homepages wie Zigaretten: nichts weiter als eine potentielle Gefahrenquelle, eventuell mal eine Steuereinnahmequelle, aber nichts, das selber schützenswert ist, kein geistig-kulturelles Gut.
Nun könnte ich noch damit leben, geduldig darauf zu warten, daß der schwerfällige Staat und seine Organe lernen, dem neuen, weltweiten Medium gerecht zu werden. Aber wenn dann findige Rechtsanwälte beginnen, die bestehende Rechtsunsicherheit für skandalöse Praktiken der Selbstbereicherung zu nutzen, geht mir wie vielen anderen auch einfach der Hut hoch. Denn so etwas schadet dem Staat in gleich zwei Richtungen: einmal schadet es ihm, weil es sein ausgeklügeltes und gewachsenes juristisches System im Schatten seiner Unwissenheit mit Füßen tritt, und zum anderen schadet es ihm, weil es ihn dem neuen Medium gegenüber diskreditiert. Denn welche Konsequenzen es hat, als Bürger eines Staates Angst haben zu müssen, normale WWW-Links zu setzen, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern. Wir würden dann kein klassisches Einwanderungsland, wir würden ein klassisches Auswanderungsland.

sagmal.de:
Über dich und die Anfänge deines Werkes SelfHTML wurde schon so viel geschrieben, dass ich nicht gross darauf eingehen will. Mich interessiert mehr die Zukunft des WWW aus deiner Sicht. Stehen Neuerungen an ? Wird es deiner Meinung nach zu grossen Veränderungen im Internet in den nächsten Jahren kommen ?

Stefan Münz:
Auch bei dieser Frage möchte ich mal weg von der Technik. Ich habe keine Lust mehr zu prophezeihen, wie viel zukünftig in klassischem HTML und wieviel in XML-Derivaten geschrieben sein wird, ob Perl oder PHP besser ist, und ob die nächste Version der Browser die aktuellen Sprachstandards endlich mal vollständig umsetzen wird. Eine Reihe von Sprachen haben sich etabliert und werden sich weiter etablieren. Für die Anforderungen reichen sie erst mal aus. Wo spezielle Anforderungen entstehen, wird man nach wie vor spezielle Lösungen brauchen. Ich denke, auch die meisten Entwickler sehen das so. Es muß noch vieles optimiert werden, in den Sprachspezifikationen ebenso wie in der interpretierenden Browser-Software. Aber das sind keine "großen Veränderungen". Die größere Veränderung, die ansteht, ist die Bedeutung, die Webseiten im Leben der Menschen einnehmen. Anfangs war es vielfach nur Spielerei oder Coolness, eine Homepage anzubieten. Man lebte sein normales Leben und hatte halt außerdem noch eine Homepage. Mittlerweile erlebe ich mehrfach mit, wie sich die Verhältnisse umkehren können. Durch die eigene oder eine andere, von einem selber vielbesuchte Homepage verändert sich das normale Leben. Neue, über die Homepage zustandegekommene und gepflegte Kontakte werden immer ernster. Bekanntschaften, Freundschaften und Beziehungen entstehen neu, über viele Kilometer hinweg. Man ist nicht mehr nur auf die Menschen angewiesen, die man aufgrund seines geographischen Irgendwolebens getroffen hat. Es kommen neue, andere Menschen dazu, die man aufgrund seiner Netzaktivitäten trifft, und sie sind ganz einfach erreichbar. Derzeit mag die Veränderung, die damit verbunden ist, erst noch eine kleine Gruppe betreffen, einen bestimmten Teil der hartgesottenen Onliner. Aber wenn die Flatrate erst mal zum Normalfall wird, und wenn das passive Web-Verhalten (Volk, nutze das Web zum Einkaufen!) erst mal stärker dem aktiven Verhalten weicht (mensch, da kann man ja richtig was machen!), dann werden noch viel mehr Internet-Anwender diese Veränderung am eigenen Leib zu spüren bekommen. Unterforderte Schüler, gelangweilte Hausfrauen, genervte kleine Angestellte. Das wird massenhaft persönliche, also letztlich demographische Folgen haben.

sagmal.de:
Viele User, darunter auch ich, haben mit und durch dein SelfHTML erst den Weg zum Designen gefunden. Kommt etwas von dem, was du dem Internet gegeben hast, zurück?

Stefan Münz:
Ich denke ja. Das Buch läuft derzeit so, daß man auch von einer ernsthaften finanziellen Anerkennung der Arbeit reden kann (auch, wenn es nicht so viel einbringt wie illegale Abmahnungen). Noch bedeutender aber ist für mich die Tatsache, daß rund um SELFHTML eine echte Community entstanden ist, Menschen, die mich durch tatkräftige Mithilfe unterstützen, und die sich gegenseitig ebenso unterstützen. Die Bereitschaft, ohne Aussicht auf Geld und Ruhm Fachtexte oder Programmcode für so ein Fremdprojekt beizusteuern, ist erstaunlich. Es gibt wirklich genügend Menschen, die gerne und unentgeltlich für andere arbeiten, wenn sie einen Sinn für die Allgemeinheit darin sehen und merken, daß sie nicht abgezockt werden sollen.

sagmal.de:
Gibt es viele Anfänger, die zu faul sind, sich durch Lernen zu informieren und dich zum Beispiel wegen Problemen mit Tabellen persönlich anschreiben ? Und wenn ja, wie gehst du damit um ?

Stefan Münz:
Einfach Anrede in die Antwortmail einsetzen und dann den folgenden Textbaustein:
"Es gibt bei der SELFHTML-Redaktion leider keinen Support mehr fuer Fragen dieser Art, weil es insgesamt zu viele Fragen geworden sind. Bitte zu diesem Thema aufrufen: http://www.teamone.de/selfaktuell/extras/support.htm
Dort gibt es Adressen zu Anlaufstellen fuer solche Fragen."
Ich denke, damit ist alles zu dem Thema gesagt. Es kommt von Empfängern einer solchen Antwortmail auch fast nie irgendeine Widerrede. Nicht, daß ich kein Verständnis für die Probleme frisch ausgebrochener Lust am Seitenbasteln habe. Aber es sind tatsächlich zu viele Fragen. Wenn ich sie ernsthaft beantworten wollte, käme ich sonst zu nichts mehr. Und das kann es nicht sein. Deshalb reagiere ich auf solche Mails einheitlich mit jenem Textbaustein, egal wie verständlich oder unverschämt die Anfrage ist.

sagmal.de:
Ein Zitat von dir: "Wir brauchen Perlen im Netz, Mist haben wir genug" ist das von mir wohl am meisten erwähnte Zitat in einigen Webdesignforen. Ist dieses Zitat immer noch aktuell ? Oder lässt der Mist langsam nach ?

Stefan Münz:
Es gibt mehr vollständige und professionelle Angebote mittlerweile als vor einigen Jahren noch (Beispiel: die Fahrplanauskunft der Deutschen Bundesbahn). Und es gibt auch eine ganze Reihe von Perlen - mit überdurchschnittlichem Eifer zusammengestellte, wirklich wertvolle Informationen zu spezielleren Bereichen (ich nenne mal beispielhaft willy-online.de und siedler3.de). Aber der Mist wächst leider auch, und zwar exponentiell. Die Hauptaufgabe künftiger Suchrobots (jener Wanderprogramme, die von den Suchmaschinen ausgesendet werden, um Homepages zu durchsuchen) wird immer stärker darin bestehen, den ganzen überflüssigen Müll, das inhaltslose Geschrei, den ganzen javascript-gewordenen Geltungsdrang auszufiltern, der mal eben testweise oder ohne Sinn und Verstand ins Web geladen wurde. Suchrobots müssen immer mehr zu Trüffelhopsern werden, wenn die Anwender der Suchmaschinen noch qualitativ hochwertige Suchergebnisse erhalten sollen.

sagmal.de:
Flash, Java, DHTML sind immer mehr die Schlagworte für Webdesign. Junge Webdesigner sind immer mehr der Meinung, dass Homepageseiten ohne Interaktivität nicht mehr auskommen. Kann eine gute Homepage darauf überhaupt noch verzichten ?

Stefan Münz:
Webdesign ist Kommunikationsdesign, kein Werbe-Design. Leider bemühen große Firmen die gleichen Agenturen für ihren Webauftritt, die sie auch für ihre Hochglanzprospekte bemühen. Das ist ein fataler Fehler. Und Interaktivität, so wie es meist verstanden wird, ist ein Schlagwort, bei dem ich jedesmal gähnen muß. Entweder suche ich nach Informationen im Web, dann brauche ich kein sich als interaktiv ausgebendes Gezappel. Oder ich möchte aktiv an etwas teilnehmen, etwa an einem Diskussionsforum, an einer Umfrage - auch dann brauche ich dieses Gezappel nicht. Die meisten echten interaktiven Anwendungen im Web sind serverseitig mit Hilfe der klassischen CGI-Schnittstelle realisiert - ohne Gezappel. Java hat in genau zwei Bereichen im Web Erfolg: beim Online-Banking und bei web-basierten Chats. DHTML dümpelt bislang vor sich hin, weil es unausgereift und zu uneinheitlich implementiert ist. Und Flash mag einiges können, aber bislang kenne ich es nur von nervenden Trailern, Hirngeburten web-fremder Marketing-Strategen. Daher gilt: wer Informationen zu bieten hat, braucht ein ansprechendes, sympathisches Layout und vielleicht auch eine Datenbank, aber er braucht keinen Rolloverkill - so etwas ist keine echte Interaktivität. Die Anwender werden dankbar sein, wenn sie nicht abgelenkt werden und sich auf das konzentrieren können, was sie suchen.

sagmal.de:
Welche Chancen siehst du auf Dauer für die WAP Technologie ? Nur eine vorrübergehende Modeerscheinung oder die Zukunft des Internet?

Stefan Münz:
Das hängt meines Erachtens stark von der Entwicklung auf dem entsprechenden Hardware- und Provider-Markt ab. Mit den derzeitigen Handy-Displays und den üblichen Handy-Tarifen würde ich sicher nicht ins Internet surfen gehen. Wenn es im Kleingeräte- bzw. Handy-Markt ein attraktives neues Zwischending zwischen Telefon und Palmtop gibt, das von der breiten Masse gekauft wird, und wenn dann noch gewaltig die Tarife purzeln, tief in den Preisbereich des Festnetzes hinein - ja, dann könnten WAP/WML durchaus eine Chance haben. Es könnte sich aber ebensogut dahin entwickeln, daß Sub-Notebooks immer beliebter werden, deren Display und Ausstattung den Betrieb normaler Browser und die Anzeige normaler Webseiten zuläßt. Insofern würde ich mich da nicht festlegen wollen.

sagmal.de:
Hast du Vorbilder im Internet ? Personen, die dich inspirierten oder noch inspirieren ?

Stefan Münz:
Allen voran sicher Tim Berners Lee, den Gründervater des Web. Seine Ansichten und Gedanken zum Sinn und Zweck des WWW gehören meines Erachtens in jedes Schulbuch. Daneben bewundere ich aber auch einzelne kluge Köpfe, die dem Web technologisch besonders viel gegeben haben: etwa Larry Wall, den Erfinder von Perl, oder den mittlerweile allseits bekannten Linus Thorvald, der die Linux-Welt geschaffen hat.

sagmal.de:
Bleibt dir beim Surfen noch Zeit für private Vorlieben und wenn ja, welche Seiten sagen dir da am meisten zu ?

Stefan Münz:
"Browsen" (englisches Wort für "Herumstöbern") tue ich nicht mehr oft, nur manchmal noch, um ein wenig abzuschalten. Die meiste Zeit geht dafür drauf, das eigene Projektgelände abzusurfen und instandzuhalten. Dann kommen ein paar Standardseiten dazu, die ich regelmäßig aufsuche, Newsticker, Magazine und dergleichen. Ansonsten bin ich öfters mal auf der Suche nach fachlich relevanten Zielen für Links - dabei komme ich auch herum im Web. Der Rest meiner Online-Aktivität aber ist Kommunikation: in Foren, per E-Mail oder mit Teufelszeug wie ICQ ;-)

sagmal.de:
Eine Frage, die ich stellen muss, will ich nicht den Zorn vieler Besucher auf mich ziehen: Wann wird es eine neue Version von SelfHTML geben ?

Stefan Münz:
Auch dafür habe ich natürlich längst einen Textbaustein: "Alles, was ich zu diesem Thema zu sagen habe, steht auf http://www.teamone.de/selfaktuell/extras/version.htm. Wenn ich etwas Konkretes anzukündigen habe, wird es dort verraten."

sagmal.de:
Und die Frage, die ich fast immer stelle: Hast du bei unseren Fragen eine bestimmte Frage erwartet oder vermisst ?

Stefan Münz:
Von XML war diesmal gar nichts dabei, dafür von WAP … naja, das wechselt halt von Jahr zu Jahr ;-)

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