Die Evangelisten kommen

15.10.2007

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Animaux sculptés dans le portail royal de la cathédrale de Chartres (Original siehe Wikimedia)

Sie kommen wie das Meiste aus dem englischen Sprachraum und sind gerade dabei, in der deutschen Sprache Fuß zu fassen: die Evangelisten! Damit sind aber keine der Personenkreise gemeint, die im Wikipedia-Wortartikel Evangelist aufgezählt sind. Also keine Verfasser von Evangelien, fromme Sänger oder Prediger im Dienst der Kirche. Es handelt sich vielmehr um jene Personenkreise, die das Merriam-Webster-Dictionary unter dem Eintrag evangelist an dritter Stelle aufzählt: enthusiastic advocates, und zwar für absolut religionsferne Dinge. Evangelisten für veganische Ernährung, Cricket-Evangelisten, und natürlich Evangelisten für das Web 2.0.

Evangelisten unterscheiden sich, lauscht man der Merriam-Webster-Definition aufmerksamer, von herkömmlichen Enthusiasten also dadurch, dass sie enthusiastisische Anwälte sind. Keine mystischen und halb dem Wahn verfallenen Schwärmer also, sondern redegewandte Interessensvertreter und Positionenbezieher. Nicht, dass es solche Leute bei uns vorher nicht gegeben hätte — uns fehlte nur das richtige Wort dafür. Jetzt haben wir also eins: Evangelisten. So eröffnet ein Microsoft-Evangelist das Rapid Deployment Programme in seinem Blog, die SAP-AG unterhält einen Community-Evangelisten namens Craig Cmehil, mit dem Produkt-Evangelisten für Google Adwords Frederick Vallaeys gibt es ein Interview, und Greg Rewis, Worldwide Senior Evangelist Web Tools bei Adobe Systems, erläutert die Neuerungen der Web Tools und das Zusammenspiel im Design-Web-Workflow.

Das weitere Lauschen eröffnet uns also, dass die neuen Evangelisten vor allem Angestellte führender IT-Unternehmen sind, für deren kreatives Aufgabenfeld wohl eine neue, griffige Berufsbezeichnung her musste. Denn wer will schon einen herkömmlichen Marketing-Fritzen interviewen — das würde ja glatt nach Klüngelei und Spezlwirtschaft riechen. Ein Interview mit einem Evangelisten klingt dagegen fast wie die Heldentat eines Frontreporters, mindestens aber wie der Bericht von einer Privataudienz beim Papst.

Hoffen wir indessen, dass dieser Kelch wie viele andere weitgehend schadlos an der deutschen Sprache vorübergehen wird, und dass es in einigen Jahren nur noch peinlich sein wird, jemanden beruflich als Evangelisten zu bezeichnen!


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