Dramatisierung: der Verfall des Privaten

15.09.2007

Die gesellschaftskulturelle Mainstream-Kritik hat bekanntlich ihre Steckenpferde. Eines davon ist derzeit der immer wieder beklagte Verfall der Privatsphäre im Internet, speziell im Web 2.0. Unüberlegter Exhibitionismus sei das allenthalben, der irgendwann auf die meist jungen Akteure zurückfalle. Arbeitgeber, die sich Bilder von Saufgelagen ihrer Bewerber ansehen, Lebenspartner, die in einem Social Network zweifelanregende Details über frühere Beziehungen ihres Gefährten nachlesen, und last but not least der Betroffene selbst, dem nach Jahren seine weit zurückliegenden, peinlichen Anfängerfragen inklusive rüpelhaftem Auftreten in Fachforen die Scham ins Gesicht treiben.

Ja, es ist alles schon vorgekommen: Bewerber wurden abgelehnt wegen gefundener Internet-Inhalte über sie, Beziehungen sind an gefundenen Internet-Inhalten zerbrochen, und wer ein Fachforum betreibt, bekommt immer wieder mal Mail von armen Seelen, die ihre früheren Ergüsse gelöscht bekommten möchten. Doch meine Antwort darauf ist: na und? Das sind ganz normale Begleitschäden, wenn sich Neues durchsetzt. Vielleicht konnte der abgelehnte Bewerber froh sein, nicht bei jenem Chef gelandet zu sein, der selbst Alkoholiker ist und deshalb die Bilder vom Saufgelage des Bewerbers überbewertete. Vielleicht wird die nächste Beziehung, geknüpft übers gleiche Social Network, viel besser. Und vielleicht stellt sich ja heraus, dass ein fetter Auftrag dem Umstand zu verdanken ist, dass ein Head-Hunter die Aufgabe hatte, einen Java-Spezialisten zu finden, der vor drei Jahren noch dumme Anfängerfragen gestellt hat.

Ihr lieben gesellschaftskulturellen Mainstrem-Kritiker: bitte seid doch etwas kritischer mit euch selbst! Schließlich ist euere veröffentlichte Stimme ja auch euer Ich, und irgendjemand anderes könnte die so wie sie ist dumm und peinlich finden — vielleicht euer Arbeitgeber oder euer nächster Lebensabschnittspartner in spe. Versucht euch zu erinnern, dass ihr früher doch immer gegen den ganzen Privatisierungskram wart, und dass ihr oft genug selber erwähnt habt, dass „privare“ das lateinische Wort für „rauben“ sei. Vielleicht lernen diejenigen, die sich frühzeitig in Social Networks verewigen, viel eher die Lektion, mit offenem Visier durchs Leben zu gehen, zu Vergangenem zu stehen, weil es nachlesbar ist und sich schlecht verklären lässt.


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