Unbildung im Informationsdschungel

24.06.2007

Vor einiger Zeit erschien der Telepolis-Artikel Die besten Kopisten konnten nicht lesen — ein Interview mit „Österreichs Wissenschaftler des Jahres 2006“, dem außerordentlichen Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann (Homepage). Es geht in dem Interview um die Frage, ob die Menschen durch den intensiven Einfluss moderner elektronischer Medien irgendwie schlauer, gebildeter und klüger werden. Liessmanns Antwort ist, dass alle Medien zu mehr Klugheit beitragen können, doch nur dann, wenn die Menschen wissen, wie sie die Medien richtig nutzen. Man kann also nicht von Medien erhoffen, dass diese allein durch eine fortschrittlichere technische Beschaffenheit die Menschheit auf eine neue geistige Stufe heben.

Liessmann stellt fest, dass die Summe von menschlicher Dummheit und Klugheit im wesentlichen konstant geblieben ist, allem medialen Überfluss unserer Zeit zum Trotz. Denn in dem Maß, in dem Informationen leichter verfügbar geworden sind und die Anzahl von Informationsquellen zugenommen hat, hat sich die verbindliche Kraft einer „normativen Bildungsidee“ verflüchtigt. Liessmann wörtlich: „Unbildung ist nicht gleich Unwissen oder Dummheit. Unbildung bedeutet die Abwesenheit einer normativen Bildungsidee. Das ist der Unterschied zwischen gegenwärtigen Konzepten zur Wissensgesellschaft und jenen aus der Vergangenheit“.

Mit der Beobachtung, dass der klassische „abendländische“ Bildungskanon in den letzten Jahrzehnten allmählich aus den Köpfen der Menschen entweicht, steht Liessmann sicherlich nicht allein. Immerhin sieht er die gegenwärtigen Entwicklungen pragmatisch und versucht nicht krampfhaft, sich für die Rettung der alten Wissensordnung stark zu machen. Als Realist ist ihm zu klar, dass die Entwicklung nicht mehr rückgängig zu machen ist. Allerdings spart er nicht mit Kritik an trendigen Euphorismen, etwa wenn er die Visionen vom kollaborativen Schreiben in Wikis mit dem Hinweis auf anonyme Schreibkollektive in der früheren DDR abtut, die gemeinsam mit vielen anderen sozialistischen Zwangsvorstellungen im Keller der Kulturgeschichte gelandet sind.

Doch gerade die Wikis sind damit nicht wirklich angreifbar. Das Konzept, dass jemand einfach so den Text eines anderen umschreiben kann, und dass auf diese Weise viele Inhalte am Ende nicht mehr von einem Autor stammen, sondern Ergebnisse von informellen Review-Prozessen sind, ist natürlich ein herber Schlag gegen die klassische Autorenherrlichkeit. Und mehr noch, es ist ein Bruch mit dem bisherigen Rollenverständnis von Akteuren und Publikum. Im Gegensatz zu den anonymen Schreibkollektiven der früheren DDR kann man Wikis jedoch nicht mehr als Randerscheinung betrachten. Wikipedia ist eines der größten kulturellen Projekte der Gegenwart, und in immer mehr Firmen und anderen Organisationen werden Wikis erfolgreich eingesetzt, um Praxiswissen zusammenzutragen, zu strukturieren und zu bewahren. Wikis sind kein Ergebnis der Übertragung sozialistisch-idelologischer Vorstellungen auf die Produktion von Inhalten. Sie sind vielmehr entstanden, weil die Zeit dafür reif war.

Dass die „Dummheit“ der Menschen konstant ist, lässt sich meines Erachtens nur spekulativ behaupten (ebenso wie das Gegenteil), weil jedes empirische Testverfahren Maßstäbe ansetzt, die man ebensogut in Frage stellen kann. Vermutlich ist es auch eher dumm, überhaupt zu fragen, ob die Menschheit als Ganzes klüger oder dümmer wird. Fest steht, dass sie sich verändert, und dass solche Veränderungen nicht aufhaltbar sind. Also bleibt nur, sich mit den Veränderungen auseinanderzusetzen. Einige Veränderungen erweisen sich als schädlich, andere dagegen als nützlich. Es gilt, weitere Verdänderungen so voranzutreiben, dass sie vor allem auf den nützlichen Veränderungen basieren. Veränderungen sind aber immer auch mit Verlustängsten verbunden. Wo die einen Erfolge des social Networking bejubeln, sind andere bestürzt über den rapiden Schwund klassisch-abendländischen Bildungsguts. „Unbildung“ mag ein vorübergehend verständlicher Begriff sein, um die verwirrend vielfältige, stark technisierte Medienumgebung zu kennzeichnen, die der Niedergang bildungsbürgerlicher Ideale hinterlässt. Auf die Dauer gesehen wird sich jedoch vermutlich eine andere Sichtweise dieser bunten Pixelwelt aus Millionen von Angeboten und Mitmachmöglichkeiten durchsetzen — auch in der Kultur- und Medienphilosophie. Es ist eine Frage der Gewöhnung, und auch die Philosophie gewöhnt sich, über Jahrzehnte und Jahrhunderte gesehen.


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