10.05.2007
„Als Identitätsmanagement (IM) wird der zielgerichtete und bewusste Umgang mit Identität, Anonymität und und Pseudonymität bezeichnet“. So formuliert es der Wikipedia-Artikel zum entsprechenden Begriff.
Identität im Internet ist für zahlreiche Menschen wesentlich vielschichtiger als im „RealLife“. Denn im Internet ist es viel einfacher, anonym zu bleiben oder zumindest unter einem Pseudonym aufzutreten. Dass sich mit kriminalistischen Mitteln die meisten Datenspuren auf einen konkreten Internetzugang zurückführen lassen, spielt dabei keine Rolle. Denn Anonymität und Pseudonymität spielen sich in aller Regel nicht in der Zone strafbarer Handlungen ab, sondern im Bereich des frei gestaltbaren eigenen Auftretens.
Ein angestellter Programmierer, der nicht möchte, dass sein Arbeitgeber von einem Programmierproblem erfährt, postet das Problem in einem Fachforum unter einem Pseudonym. Wer in einem Forum Rat bei einem familiären Problem sucht, ohne dass Sozial- und Jugendamt gleich Indizien sammeln können, tut ebenfalls gut daran, ein Pseudonym zu benutzen. Nun verlangen viele Services im Web, etwa entsprechende Fachforen, eine Registrierung mit E-Mail-Kontrolle. Um dem Web-Anbieter gegenüber anonym zu bleiben, bietet es sich an, sich irgendwo bei Hotmail, Yahoo, Google, GMX oder dergleichen eine kostenlose gültige Mailadresse einzurichten, die nichts mit dem eigenen Namen zu tun hat. Schon viele aktive Web-Benutzer haben sich solche Zweit- und Dritt-Mailadressen nur zu dem Zweck eingerichtet, um gegenüber Services, die eine Mailadresse erfordern, anonym zu bleiben — und an dieser Praxis ist absolut nichts Verwerfliches. Auch das Verwischen von Herkunftsspuren mittels Anonymizern wird von nicht wenigen Web-Benutzern verwendet.
Auf der anderen Seite beklagen Datenschützer, dass viele Netzaktivisten nicht nur sorglos, sondern geradezu provokativ fahrlässig Daten-Exhibitionismus betreiben — so etwa Peter Schaar im ntv-Beitrag „Elektronischer Exhibitionismus“: Versäumnisse beim Datenschutz. In der Tat verlocken viele neuere Mitmachangebote im Web zur Preisgabe persönlicher Daten, Einstellungen und damit einhergehend auch weniger charmanterer Seiten der eigenen Person.
Doch was ist denn nun wahr? Wird zu viel oder zu wenig Anonymität betrieben? Die Antwort lautet: weder noch. Und es sind nicht nur zwei Lager von Menschen (verkrampfte Paniker und schamlose Exhibitionisten), die sich da gegenüber stehen. Es sind häufig multiple Netz-Identitäten ein und derselben Person. Jemand hat beispielsweise ein völlig seriöses Profil bei Xing, unter echtem Namen ein relativ lockeres Auftreten in einem Interessens-Forum für Motorrad-Freaks und eine sorgfältig gepflegte Pseudo-Identität in einem Erotik-Chatraum. Im Grunde ist das nicht anders als im übrigen Leben auch. Jeder spielt Rollen: Geschäftspartner und Ehepartner, wilder Feten-Clown und gläubiger Gottesdienstbesucher. Jeder Mensch lernt mehr oder weniger gut, die verschiedenen Rollen seines Lebens zu spielen.
Während Rollen im Alltag jedoch häufig unwiderruflich sind (Eltern-Sein, Geldverdienen-Müssen, mit Krankheit leben), hat man im Internet eher die Wahl zwischen verschiedenen Identitäten. Dazu kommt bei der Internet-Kommunikation, dass man von den Vor- und Nachteilen direkter Fremdwahrnehmung befreit ist. Menschen leben hier durch ihre Äußerungen, und man kann intensiv kommunizieren, ohne zu wissen, wie das Gegenüber aussieht, wie alt es ist, welchen Eindruck seine Kleidung macht usw. Es ist im Netz viel einfacher, von einem Ort zu verschwinden und seine Zelte an einem anderen Ort aufzuschlagen. Eine gewisse Leichtigkeit haftet den Rollen an, die man online spielt. Eine Leichtigkeit, die von Kritikern als Unverbindlichkeit ausgelegt wird und von Befürwortern als neuartige Freiheit bei der Gestaltung der eigenen Persönlichkeit.
Zu Unverbindlichkeit und Unstetigkeit führt die größere Wahlfreiheit bei der Identitätsfindung im Internet dann, wenn diese Wahlfreiheit unreflektiert abläuft. Wer sich dagegen bewusst Gedanken macht darüber, welche Identitäten er wünscht und aufbauen will, profitiert von dem großen Gestaltungsspielraum. Identitätsmanagement im Internet ist das bewusste Planen und reflektierte Entscheiden, an welchen Orten im Netz man wie auftreten möchte. Dazu gehört auch die Entscheidung darüber, wo man als reale Person auftritt, und wo man unter einem Pseudonym agieren will. Beides ist völlig legitim — sturen Verfechtern der Realname-Ideologie sei die Pseudonymitäts-FAQ fürs Usenet ans Herz gelegt.
Eine Identität kann man jedoch nur als solche erleben, wenn man sie konsequent durchzieht und ihr über einen längeren Zeitraum treu bleibt. Flatterhaftes Wechseln von einer Identität zur nächsten ist für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit nutzlos. Zur Wahlfreiheit bei der Identitätsfindung gehört indessen auch, „Test-Identitäten“ aufzubauen. So kann es durchaus spannend und für die eigene Erfahrung förderlich sein, mal irgendwo den ungeliebten Advocatus diaboli zu spielen, oder sich bewusst in eine Rolle zu versetzen, die man sonst eigentlich hasst, mit der man sich aber aus irgendwelchen Gründen auseinandersetzen muss oder will. Das kann allerdings auch schiefgehen. Ein Familienvater, der sich in einem Gothic-Zirkel versucht, aber seinen hoffnungslos bildungsbürgerlichen Wortschatz nicht verleugnen kann, wird vermutlich schnell scheitern. Gerade im Einnehmen „entfernter“ Rollen liegt die größte Herausforderung — und für manch verhinderten Schauspieler der größte Reiz.
Und wo ist die Grenze zum bösartigen Identitätsschwindel? Böse Onkels, die authentisch chatten können wie Zehnjährige und versuchen, virtuelle Doktorspiele anzuzetteln oder echte Adressen und Dates zu ergattern, haben die Grenze zweifellos überschritten. Dass es diese Grenze gibt und dass sie überschritten werden kann, ist jedoch kein Gegenargument gegen bewusste Identitätsgestaltung im Netz, genausowenig, wie die Tatsache, dass es sexuelle Verbrechen gibt, ein Argument gegen Sex ist. Bewusste Identitätsgestaltung läuft im moralischen Gesamtrahmen einer Person ab, und wenn dieser nicht gestört oder zerstört ist, wird auch eine „gewählte Identität“ nicht seinen Rahmen sprengen.
Identität ist das was in sich ruht und aus sich selbst heraus wirkt. Klingt nach Esoterik-Geschwafel und Kaffee-Werbung, wird aber von namhaften Philosophen bestätigt. Entsprechend faszinierend ist die freie Identitätswahl. Es ist die freie Wahl fester Kraftpunkte im Leben. Identitätsmanagement ist also alles andere als einfach, und es ist auch kein typisches Thema für „Internet-Business 2.0“. Identitätsmanagement im Internet ist Persönlichkeitsentfaltung im Rahmen einer ungewohnten Freiheit.
Posting-Vorschau:
Vorschau schließen