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Das Netz ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Netzpolitische Themen werden tagesschautauglich. Die Politik nimmt das Netz und seine schwer kalkulierbaren Impulse ernst, versucht aber gleichzeitig, das Netz zu kontrollieren. Das Netz wird in der Politik zwar vereinzelt als Chance begriffen, in der Regel jedoch eher als Bedrohung und Sündenpfuhl. Und zwar quer durch alle Regierungen und Regimes. Dass sich totalitäre Regimes mit totaler Publikationsfreiheit und hochgradiger Transparenz schwer tun, verwundert nicht weiter. Dass jedoch die meisten demokratischen Staaten kaum weniger Probleme damit haben, mag erstaunen. Ein Grund könnte sein, dass es in Wirklichkeit nur noch Postdemokratien sind.
Der Begriff Postdemokratie (Wikipedia-Artikel) geht auf das gleichnamige Buch Post-Democracy (Buch bei Amazon) des britischen Soziologen Colin Crouch (Wikipedia-Artikel) zurück. Das Buch, das 2004 im Original erschien, ist seit 2008 auch in deutscher Übersetzung (Buch bei Amazon) verfügbar. Im Printsektor hat sich rund um den Postdemokratie-Begriff auch schon eine gewisse Debatte ergeben. So etwa durch Schriften wie Post-Demokratie (Buch bei Amazon) von Karlheinz Weissmann (2009), Postdemokratie: Deutschland im postdemokratischen Zeitalter - ist die Demokratie der Bundesrepublik stabil? (Buch bei Amazon) von Steve Urban (2009), oder Das Verschwinden der Politik (Buch bei Amazon) von Wolfgang Fach. Für 2011 plant Suhrkamp die Herausgabe eines Readers mit dem Titel Demokratie?: Eine Debatte (Buch bei Amazon). Aufschlussreich ist auch das Editorial: Postdemokratie - Ein neuer Diskurs? im Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Heft 4/2006. Dort heißt es:
Das Präfix ‚post' bringt nicht nur eine Art Endzeitbewusstsein zum Ausdruck, sondern macht Platz für die in westlichen Demokratien aus vielen guten Gründen lange tabuisierte Frage, ob es politische Regimeformen geben könnte, die keine Verbesserung der Demokratie beinhalten, sondern die der Demokratie, so wie wir sie kennen, nachfolgen könnten, ohne dass sie sich deshalb zu Diktaturen, so wie wir sie ebenfalls bereits kennen, umwandeln.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich denn auch die gesamte Debatte. Aus Phänomenen der Politikverdrossenheit in westlichen Demokratien, wie etwa sinkender Wahlbeteiligung, Parteimitgliederschwund oder zunehmendem Inszenierungscharakter von Wahlkämpfen leitet sich die Betrachtungsweise ab, dass sich die repräsentative Parteiendemokratie in einem Endstadium befindet oder nicht mehr weit davon entfernt ist. Unterschiede gibt es zweifellos in der Bewertung, ob diese Endzeit bereits eingesetzt hat oder nur droht, und ob es noch rückwärtige Auswege daraus gibt oder nicht. Am wenigsten Einigkeit besteht darüber, in welche Form politischer Entscheidungsfindung eine endgültige Erosion der Parteiendemokratie münden könnte, und ob dies letztlich ein evolutiver oder ein revolutiver Prozess sein wird.
Im Internet wird die Debatte um Postdemokratie, so weit ich erkennen kann, bislang nicht in dieser Form geführt. Zumindest nicht auf breiter Front. Die Netz-Avantgarde denkt zumeist von der anderen Seite her: das Netz wird dabei als die neue Realität in der Gesellschaft begriffen, die herkömmliche Grenzen und Hoheiten wie ein Fluidum umspült. Die repräsentative Demokratie passt nicht mehr zu dieser Gesellschaft. Passend kann nur eine netzbasierte, digitale und elektronische, alle interessierten Bürger direkt einbeziehende Demokratieform sein. Deshalb wird im Netz häufiger über Liquid Democracy als über Postdemokatie diskutiert. Auch hier im Webkompetenz gab es kurz nach der von vielen Netizens als Farce empfundenen Bundestagswahl 2009 eine entsprechende Diskussion.
Innerhalb der Postdemokratie-Debatte wird das Thema allerdings insgesamt vielschichtiger angegangen. So gibt es auch Argumentationen wie die, dass das Problem der erodierenden Parteiendemokratie nicht auf Verfahrensebene, sondern nur sozial gelöst werden kann. Sprich, zuerst muss eine starke, engagierte gesellschaftliche Bewegung für die Werte demokratischer Willensbildung entstehen, erst dann kann über zeitgemäßere Verfahrensformen nachgedacht werden.
Ein denkbarer Anstoß zu einer Netz-Diskussionen um Postdemokratie könnte beispielsweise die Zündfunk-Sendung Von der Demokratie zur Postdemokratie (Bayern 2) liefern. Die Sendung zeigt sehr klar und angenehm objektiv die Krisensymptome der noch selbstverständlichen, repräsentativen Parteien-Demokratien auf:
<html> <head> <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=iso-8859-1" /> <title>Squark mp3 Player</title> </head> <body> <script language="JavaScript" src="http://webkompetenz.wikidot.com/local--files/intern:src/audio-player.js"></script> <object type="application/x-shockwave-flash" data="http://squark.wdfiles.com/local--files/dev:8/player.swf" id="audioplayer1" height="24" width="290"> <param name="movie" value="http://webkompetenz.wikidot.com/local--files/intern:src/player.swf"> <param name="FlashVars" value="playerID=1&soundFile=http://cdn-storage.br.de/mir-live/podcast-migration/audio/podcast/import/2010_01/2010_01_22_15_14_46_podcastgenerator31012010demokr_a.mp3"> <param name="quality" value="high"> <param name="menu" value="false"> <param name="wmode" value="transparent"> </object> </body> </html>
Zündfunk-Sendung: Von der Demokratie zur Postdemokratie (ca. 40min)
Denn wenn wir über die Möglichkeiten, das demokratische Verständnis der Bevölkerung durch elektronische Beteiligungsformen zu erweitern diskutieren, lohnt es sich, einen Blick auf diesen Begriff zu werfen.
Diesen Gedanken verfolgt jedenfalls das Digital Government & Society Blog der Universität Krems an der Donau in dem Beitrag E-Postdemokratie? (August 2010), der die Zündfunk-Sendung explizit als Inspirationsquelle nennt. Der Blog-Artikel ist einer der wenigen Versuche, die von der Netz-Avantgarde an sich selber festgestellte Erneuerung der politischen Partizipationsbereitschaft mit der bislang eher netz-extern geführten Postdemokratie-Debatte in Verbindung zu bringen.
Durch die Verknüpfung von Postdemokratie-Debatte und netztypischer Liquid-Democracy-Debatte würde eine neue Diskursqualität entstehen. Denn die Postdemokratie-Debatte wird vor allem von Soziologen, Politikwissenschaftlern und Historikern geführt. Diese Debatte erschöpft sich nicht darin, inwieweit digitale, elektronische Verfahrensweisen die demokratische Willensbildung erneuern könnten. Doch sie leidet im Gegensatz zur Liquid-Democracy-Debatte vielleicht ein wenig an akademischer Schwere und fehlenden, aber nötigen Visionen. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn künftig eine Suche nach "Postdemokratie" auf netzpolitik.org etwas anderes als „Entschuldige, kein Artikel passt zu deiner Suche“ liefern würde. Und wenn umgekehrt an soziologischen Lehrstühlen der Begriff der Liquid Democracy nicht mehr nur mit der Kneifzange angefasst werden würde.
Die Anregung zu diesem Artikel gab übrigens ein Tweet von Martin Lindner
Ich möchte behaupten, dass einige kleinere Plattformen sich sehr wohl mit dem Thema beschäftigen. Sowohl bei Felix Neumann http://fxneumann.de/ als auch auf der Kontextschmiede http://kontextschmiede.de/was-ist-eigentlich-liquid-democracy/ und einigen weiteren Blogs aus meinem Feedreader ist mir eine demokratietheoretische Auseinandersetzung mit Netzpolitik bereits begegnet. Schon vor zwei Jahren wurde in den Kommentaren auch schon auf die Postdemokratiedebatte verwiesen und der Begriff taucht auch in aktuellen Diskussionen über Wikileaks z.B. http://www.struppig.de/vigilien/?p=2954 auf.
Umgekehrt ist Liquid Democracy aber kein politikwissenschaftlicher Begriff. Delegated Voting kann zwar als Konzept auf eine über hundertjährige Tradition in den USA blicken, aber die Verknüpfung mit Technokratie-orientierten Ansätzen ist auch ein sehr zielgruppenspezifisches Thema. Die Zielgruppe neigt außerdem gerne dazu, in ihren Diskursen bisweilen arg selbstbezogen zu sein. Dass der Mainstream der deutschen Netizens wiederum einen Diskurs nicht aufgreift, der kaum weniger zielgruppenspezifisch ist, verwundert da nicht unbedingt. Politikwissenschaftliche Diskurse sind halt selten Mainstream. Auch im Netz nicht.
Kleine Ergänzung zum Artikel: der Begriff Postdemokratie taucht dieser Tage merkwürdigerweise an ganz verschiedenen Stellen auf. Direkte Bezüge sind dabei nicht unbedingt immer herstellbar. Sogar die Bundeszentrale für politische Bildung hat sich jetzt des Themas angenommen:
Danke auch an @erz für die Links zur Kontentschmiede und struppig.de!
@StefanM
In der Tat, in populären Diskursen wird der Begriff "Postdemokratie" meines Empfindens nach ab und zu als Chiffre für einzelne Ursachen der Politikverdrossenheit verwendet. Nicht so sehr als politikwissenschaftliches Konzept der systematischen Etablierung von intransparenten Machtzirkeln im abendländischen Parlamentarismus. Danke für deinen Denkanstoß.
Ein wichtiges Thema, übrigens gab es gerade eine Publikation der BPB dazu, kann man hier downloaden http://www.bpb.de/publikationen/V9KIQC,0,Postdemokratie.html
Danke für die Informationen-Übersicht. Ich würde ja nicht gerade ausgerechnet Karlheinz Weissmann als ersten und dann offenbar als wichtig angesehenen Diskursanten anführen. Naja. Was die Wahrnehmung von Colin Crouch im Netz angeht, habe ich grad meinen 2007 entstandenen Beitrag dazu gefunden:
http://shiftingschool.wordpress.com/2007/01/23/postdemokratie-verfall-oder-neukonstruktion-der-demokratie/
Vielleicht als Ergänzung interessant.
Übrigens klemmt irgendwie die Zeile, wo man seine Homepage eintragen kann. Meine passt jedenfalls nicht rein ;-)
@Lisa
Ich muss gestehen, dass ich die ganze Literatur bislang nicht gelesen habe und deshalb nicht in der Lage bin zu unterscheiden, welche Beiträge dabei wie zu gewichten oder zu bewerten sind. Ich habe einfach an Hand der Amazon Suchtreffer zum Thema festgestellt, dass da offensichtlich ein politikwissenschaftlicher Diskurs stattfindet, der in den Demokratiediskussionen innnerhalb des Netzes bislang nur wenig Widerhall findet. Zwar wird im Netz natürlich viel über Einzelsymptome wie Wahlmüdigkeit oder Wahlkampfinszenierung geredet, doch es fehlte meines Erachtens bislang etwas, das all diese beobachteten Missstände und das ganze wachsende Unbehagen an den gewählten Regierungen in einem zusammenhängenden Modell beschreibt. Da es sich bei diesem Thema nicht um irgendwas Exotisches handelt, sondern um etwas, das letztlich die Bürger vieler Staaten betrifft (auch uns), halte ich es für wichtig, dass das Erklärungsmodell Postdemokratie aus dem tabuisierten Dunkel herausgeholt und offen diskutiert wird. Was die Feinheiten betrifft, sprich, wer was Gescheites dazu zu sagen hat und wer eher nicht so, so werde ich irgendwann hoffentlich schlauer sein als jetzt :-)
Danke auch für den Link (auch an @Domingos!). Dass sich die Bundeszentrale für politische Bildung aktuell ebenfalls des Themas angenommen hat, habe ich bereits getwittert. Aber das frei zugängliche PDF des Readers "Postdemokratie?" kannte ich noch nicht. Da habe ich ja mal eine Einstiegslektüre, bevor ich mich an Crouch himself wage.
Ja, ein altes Problem bei Wikidot. Habs letztes Jahr schon gemeldet, aber bislang hat sich niemand erbarmt und dem URL-Feld mal mehr Zeichen spendiert. Da hilft, wenns mehr als 30 Zeichen sind, momentan leider nur URL-Shortening.
gute Idee mit url shortener ;-)
Was ich wichtig finde, ist, dass man nicht an dem Begriff "Postdemokratie" klebt, damit man den Gegenstand, womit er sich beschäftigt, auch anderswo diskutiert finden kann. Für mich ist z.B. das Buch von Harald Welzer und Claus Leggewie, Das Ende der Welt wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, in diesem Zusammenhang ein wichtiges Buch.
http://www.amazon.de/Das-Ende-Welt-wie-kannten/dp/3100433114
Denn es diskutiert - ausgehend von den Problemen, die weltweit und gemeinsam sowie gleichzeitig lokal vor Ort zu lösen sind - die immer wieder aufgestellte Behauptung (und natürlich am vehementesten vorgetragen von solchen der "Neuen Rechten"), es gäbe keine Alternative zu einer neuen autoritären Regierungsform - bei der neuen Rechten mit rassistischen ("Ethnopluralismus" im Eigenjargon genannten) Zügen. Leggewie und Welzer zeigen auf - wie auch Willke in seinen Untersuchungen, v.a. in der "globalen Governanz", dass im Gegenteil stattdessen eine Weiterentwicklung der Demokratie über die repräsentative Demokratie des 20. Jh. hinaus nicht nur notwendig, sondern auch im Bereich des Möglichen ist.
Weder Welzer/Leggewie noch Helmut Willke benutzen dabei den Begriff "Postdemokratie" - natürlich nicht, denn sie sehen nicht das Ende, sondern eine neue Stufe der Entfaltung.
Besser als Hagen Rether kann man es kaum sagen:))
http://www.youtube.com/watch?v=rDf_7p7Rj2A
"Man gestattet uns regelmässig *Demokratie* zu spielen… so gut es geht… und das machen wir dann… in jedem Bereich!.."
;)
*Hand-über-den-Kopf-zusammenschlag*
Bitte nicht diese Buzzwörter, wenn es um etwas so wichtiges wie Staatsformen geht.
Aristoteles hatte eigentlich auch schon alles gesagt, die Kommunikationsformen - ob Scherbengericht oder Internet - bringen keinerlei neue Gedankenansätze.
Ansonsten gilt: Zu einer nachhaltigen Staatsform gehören außer den freien und geheimen Wahlen (in D eingeschränkt durch 5%-Hürde und 1. und 2.-Stimme):
- Verlosung von Aufsichtsämtern: Jeder Bürger kann durch Losziehung sozusagen Aufsichtsrat der Regierung werden!
- (Scherben)gericht: verantwortliche Banker und Politiker müssen - auch wenn sie sich juristisch rauswinden könnten - für die Milliardenschäden bestraft werden!
Schön, wenn alles was zu sagen ist schon vor langer Zeit gesagt wurde, wenn man nicht weiter als bis zu freien und geheimen Wahlen denken muss, wenn es genügt, ein paar Schuldige zu bestrafen, und wenn man den Rest mit noch etwas mehr Ämtern erledigen kann. Alles könnte so schön gemütlich sein, wenn es nur nicht diese Unruhegeister gäbe, die immer wieder neue Gespräche eröffnen und damit unter ihres gleichen die Gedanken wach halten, und denen es dabei auch noch egal ist, ob man ihre Begriffe von außen als Buzzwords bezeichnet oder nicht :-)
Stefan, das ist Quatsch. "Postdemokratie" soll was genau bedeuten? Dass es früher _wirklich_ demokratisch (im Sinne der ideologischen Sicht der "Postdemokratie") war?
Nö, früher (vor 1977) gabs in D drei Parteien, die die öffentlichen Medien beherrschten, Privatfernsehen gab es nicht und auch die Printmedien waren parteiisch.
Heute gibts das Web und die Standardmedien sind auf dem Rückzug, heute kann man an Debatten teilnehmen, bei denen man früher ausgeschlossen war.
Welches Idealbild die Vertreter der "Postdemokratie" haben, kann man nur erahnen, aber es funktioniert demokratisch heute nicht schlechter als vor sagen wir mal 35 Jahren.
Ein besonderes Problem gibt es aber zurzeit, das ist die EU und Nationalpolitiker, die sich längst von ihrem Mandat und ihren Wählern entfernt haben, und die in der schwach politisch legitimierten EU ihren wahren Machtbereich sehen. - Beispiel: EURO-TransferEU, die hat keiner gewollt, aber die kommt, danke D für das schöne Geld, btw!
Sky
Bin der Meinung, dass Netz und Politik nichts zu tun haben, oder vielleicht sollte es so sein
Aha, ein erhellender Beitrag mit Absenderlink zu einem Linkaufbau-SEO-Netz. Na gut, will ja mal nicht so sein und lasse das stehen. Aber nicht ohne Link! :-)
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