Erste Erfahrungen mit Diaspora

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Anfang Juni haben sie angefangen zu entwickeln, die vier New Yorker IT-Studenten Dan Grippi, Maxwell Salzberg (non est Zuckerberg), Raphael Sofaer und Ilya Zhitomirskiy. Zuvor hatten sie mit der Ankündigung, ein freies, dezentral organisiertes Social Network als Alternative zu Facebook entwickeln zu wollen, eine Menge Wirbel verursacht und eine Menge Spenden (etwa 200.000 US-Dollar) eingesammelt. Ein paar Monate später wagten sie nun eine erste Öffnung der Webanwendung für interessierte User. Beim Ausprobieren zeigt sich allerdings schnell, dass es für wirklich aussagekräftige Vergleiche mit etablierten Social-Network-Portalen einfach noch zu früh ist. Nichtsdestotrotz eine Gelegenheit, sich schon mal vertraut zu machen mit den Besonderheiten dieses neuen, hoffnungsvollen Networks.

Als Einstiegsadresse für die Alphaversion von Diaspora wird https://joindiaspora.com angegeben. Um die Benutzerzahlen kontrollierbar zu halten, ist dort derzeit noch keine Selbstregistrierung möglich. Stattdessen benötigt man eine Einladung eines bereits vorhandenen Diaspora-Users. Jeder neue User erhält erst mal fünf Einladungen, die er an beliebige andere Personen per E-Mail versenden kann. In der E-Mail ist ein Freischalt-Link enthalten, mit dessen Hilfe ein neuer Account eingerichtet werden kann. Es gibt jedoch eine einfache Möglichkeit, die Einladungen zu umgehen. Dazu weiter unten.

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Diaspora setzt voll auf HTML5-Techniken und macht keine Konzessionen an Browser

Für die breite Masse der Endanwender, die noch immer zu 50-60% mit dem Internet Explorer in einer Version kleiner 9 unterwegs ist, ist Diaspora ohnehin noch kein Thema. Die werden nämlich schlichtweg ausgeschlossen. Denn Diaspora setzt auf eine Technik, die bislang nur in den Webkit-Browsern (Chrome und Safari), in Firefox 4.0 und Opera 10.7 verbaut ist — die sogenannten Websockets (mehr Infos dazu weiter unten).

Und woher soll die Rechen-Power des Networks bei wachsenden Benutzerzahlen kommen? Ohne Werbekunden, ohne echte Einnahmequelle? Während Facebook ein zentral gesteuertes Projekt mit hunderten bis tausenden, zu Clustern geschalteten Servern ist, geht Diaspora einen anderen Weg. Die Server-Seite von Diaspora ist dezentral organisiert. Jeder interessierte Benutzer kann im Prinzip einen Diaspora Zugangsserver betreiben, einen sogenannten POD. Endanwender wählen einfach einen POD aus, über den sie auf das Network zugreifen.

Die oben erwähnte URL https://joindiaspora.com/ ist nichts anderes als ein solcher POD. Es gibt längst unzählige andere PODS. Viele von ihnen ermöglichen auch, sich ohne Einladung ein Benutzerkonto zuzulegen. Jeder POD hat eine eigene URL-Adresse. Eine Liste bekannter POD-Adressen, die zum Diaspora-Verbund wie gehören, wird auf github.com angeboten. Eine dieser Adressen — http://diasp.org/ — konnte ich erfolgreich testen. Erfolgreich testen bedeutet: es war mir möglich, mir dort einen Account anzulegen und mit diesem Account auf diasp.org Kontakte zu finden, die eigentlich auf joindiaspora.com ihren Account haben. Dazu erhält jeder Benutzer auf jedem Server, wo er einen Diaspora-Account hat, eine eindeutige Adresse, die wie eine Mailadresse aussieht. Die Adresse besteht aus einem frei wählbaren, noch nicht vergebenen Benutzernamen und der Domain. Meine Adresse bei joindiaspora.com lautet beispielsweise stefan.muenz@joindiaspora.com, und auf diasp.org bin ich stefan.muenz@diasp.org. Was mir beim Testen nicht gelungen ist, ist eine Datensynchronisation, so dass ich praktisch über jeden POD, über den ich einsteige, letztlich auf den gleichen Kontakte- und Datenbestand zugreifen kann. Ob das bislang nur noch nicht implementiert ist, in der Benutzeroberfläche noch nicht vorkommt oder gar nicht vorgesehen ist, ist mir nicht bekannt. Wenn Diaspora ein robustes, flexibles Peer-to-Peer-Network werden soll, halte ich etwas Derartiges auf Dauer allerdings für wichtig.

Anbieter, die selber einen POD betreiben möchten, erfahren auf der Seite Installing and Running Diaspora, was zur Einrichtung erforderlich ist.

Diaspora verwendet für die Peer-to-Peer-Funktionalität die speziell für Webanwendungen entwickelten WebSockets. WebSockets sind eine Ergänzung zum HTTP-Protokoll. Sie ermöglichen Datenaustausch zwischen HTTP-Client und HTTP-Server in beide Richtungen, ohne dass für jeden Datenaustausch ein neuer HTTP-Request erforderlich ist. Dadurch sind WebSockets vor allem der Ajax-Technik überlegen. Die Technik der Websockets ist deshalb noch nicht so verbreitet, weil sie gegenwärtig noch von zu wenigen Browsern unterstützt wird. Doch sie hat zweifellos Zukunft, und es ist sicher eine weise Entscheidung gewesen, bei Diaspora von vorneherein auf diese Protokolltechnik zu setzen.

Das Dezentralisierungskonzept ist also das, was Diaspora wesentlich von bisherigen Social Networks unterscheidet. Wichtig zu verstehen ist dabei, dass die Dezentralisierung nicht nur eine technische Herausforderung ist. Sie ist die Basis dafür, die Rechen- und Bandbreitenlast eines Social Networks von beliebiger Skalierbarkeit auf viele Schultern zu verteilen. Nur so ist ein kommerziell und datenmonopolist-unabhängiger Betrieb möglich. Es gibt keinen Druck, wachsendes Verkehrsaufkommen nur mit immer aufwändigeren Server-Clustern zu bewältigen, für deren Finanzierung die Daten der User an lachende Interessenten verkauft werden. Neue Features oder Änderungen in der Network-Software werden nicht einfach ohne Zustimmung der User bereitgestellt, sondern verbreiten sich nachfrageabhängig über die POD-Landschaft.

Diesen wesentlichen Unterschied sollte man auch im Auge behalten, wenn man daran geht, die Benutzeroberflächen zu vergleichen. Was letztere betrifft, so hat Diaspora im Alphastadium wirklich nichts zu bieten, was erfahrene Twitter- und Facebook-Benutzer vom Hocker reißen könnte. Mir persönlich gefällt die an Facebook orientierte Präsentationsform der Timeline sehr gut, und vor allem gefällt mir, dass man ähnlich wie bei Google Buzz keine oder keine beengenden Obergrenzen für Posting-Längen vorgesehen hat. Das ist meines Erachtens ein wichtiges Merkmal für das Interesse an offener Diskussionskultur, wo sich nicht alles einem Das-liest-doch-eh-keiner-Diktat beugen muss.

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Die Diaspora-Oberfläche setzt auf Facebook-Ähnlichkeit

In den oberen Etagen der deutschen Blogosphäre ist Diaspora nicht unbedingt mit viel Begeisterung aufgenommen worden. Ctrl-Verlust MsPro etwa ärgert sich in Diaspora – Facebook – Twitter und das Filterproblem darüber, dass man in Diaspora dazu erzogen wird, Menschen in Sozialschubladen zu stecken. Christian Köhntopp wünscht sich im Artikel Die unerträgliche Lameness des Web 2.0 generell ein intelligenteres Networking, das selbständig netzwerkübergreifend Content-Dubletten herausfiltert. Und Marcel Weiß alias Neunetz setzte sich bereits vor einigen Wochen in seinem Artikel Diaspora: Mit MongoDB und Ruby on Rails auf den falschen Pferden kritisch mit der Technik und Vorgehensweise des Diaspora-Projekts auseinander.

Sonst gehöre ich ja auch gerne zu den Visionären. Aber im Fall von Social Networks wünsche ich mir seltsamerweise solide Hausmannskost. Ich möchte nicht schon wieder sensationell neue Software-Konzepte verstehen lernen. Ich bin auch gar nicht so scharf auf totale Automatisierung. Bei mir ist es durchaus so, dass ich es schätze, bei eigenen Postings trennen zu können zwischen privat, Web-Engagement und Geschäftspartnern. Die Mühe der Kategorisierung meiner Kontakte nehme ich gerne auf mich, vor allem weil Mehrfacheinordnung kein Problem ist. Und wenn ich 23 mal lese, dass ein Politiker einen ganz gefährlichen Schwachsinn in Bezug auf das Netz losgelassen hat, hat das einfach einen anderen Penetrationsgrad, als wenn ich es nur einmal lese mit dem kleinen Hinweis "22 ähnliche Posts". Ich glaube auch, dass die Peer-to-Peer-Funktionalität von Diaspora nicht so zu verstehen ist, dass möglichst jeder Benutzer seinen eigenen Diaspora-Server betreibt. Die Datenverteilung hat bei Diaspora meines Erachtens eher die Funktion des Rechenpower-Sharings, vergleichbar mit dem Ansatz von SETI@home. Es genügt, wenn interessierte Anbieter einen Server bereitstellen.

Insgesamt bleibt jedoch auch bei mir der Eindruck, dass Diaspora wirklich noch sehr im Alpha-Stadium steckt — eine Art 0.1-Version. Weder ist die gesamte erwartbare Funktionalität verfügbar, noch ist die Oberfläche jenseits des üblichen JQuery-driven-Web-2.0-Wondersite-Look wirklich ausgereift. Mich persönlich hat beispielsweise gestört, dass ein selbst abgesetztes Posting erst nach etlichen Sekunden zu sehen ist, was einen nach dem Posten für eine ganze Weile im Ungewissen lässt.

Diaspora wird also hart am Ball bleiben müssen. Nicht so sehr wegen des übermächtigen Gegners Facebook, gegen den ohnehin nur ein Verständniswandel unter Normalbenutzern helfen würde, sondern weil es durchaus andere Ansätze zu dezentralen Social Networks gibt, wie etwa The Appleseed Project. Diaspora hat bislang nur die größere Medienbeachtung gefunden. Das ist zwar erst mal ein wichtiger Vorsprung nach Punkten in unserer medienzentrierten Welt. Doch Erfolg kann das Projekt nur haben, wenn es im Gespräch bleibt, und zwar durch technisch überzeugende Leistungen. Das Alpha-Rollout war insofern gut platziert, als das Projekt dadurch medienpräsent bleibt. Bei der Technik muss jedoch noch viel passieren. Schön wäre es, wenn man jetzt rasche Fortschritte in den vorhandenen Alpha-Zugängen sehen und nachvollziehen könnte.

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