Oberstaufen und das deutsche Thema des Jahres

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Was in Sachen Internet-Themen im Jahre 2009 die Netzsperren waren, ist im Jahr 2010 für die Deutschen ganz zweifellos das Thema StreetView. Nachdem bereits den ganzen Sommer über eifrig darüber debattiert wurde und zahlreiche Ortsvorsteher medienwirksam ihre StreetView-Verweigerungshaltung kundtaten, trotzte ein kleiner Ort namens Oberstaufen im Allgäu dem Entrüstungs-Mainstream und lud Google mit offenen Armen ein. Als Ergebnis davon ist nun, da Google die ersten StreetView-Bilder aus Deutschland veröffentlicht hat — inklusive der von Oberstaufen — eine beispiellose Welle touristischer Sympathie über den Ort hereingebrochen. Das Beispiel zeigt vieles: unter anderem, wie wichtig geistige Aufgeschlossenheit ist.

Wie der PR-Fundsachen-Artikel PR-Kampagne im Allgäu deutlich macht, ist der Medien-Coup, der Oberstaufen da gelungen ist, kein Zufall. Die Ortschaft präsentiert sich auch sonst ungewöhnlich „web-offen“. Da wäre etwa die an das DuBistDeutschland-Kampagne angelehnte Projekt Du bist Oberstaufen, eine Art „Social PR-Projekt für Heimat-Clips“. Oder auch die schlichte Tatsache, dass die Pinnwand der Facebook-Seite von Oberstaufen kein One-Way-Organ ist wie bei vielen anderen Gemeindepräsenzen auf Facebook, sondern ein Ort, an dem alle, die der Seite beitreten, posten können. Die Botschaft der Seite lautet dadurch „wir haben keine Angst vor euch Usern“. Die User spüren das und danken es. Auf Twitter geht man sogar gleich mit drei Accounts zu Werke: @Oberstaufen, @Kurdirektor alias Tourismus-Chefin Bianca Keybach, und @BenjaminBuhl.

Benjamin Buhl, jung, web-erfahren und präsent auf allen Bühnen von Twitter, Facebook, MySpace, LinkedIn bis Slideshare, ist maßgeblich an dem medialen Meisterstück beteiligt. Bereits für das Du-bist-Oberstaufen-Projekt, zu dessen Initiatoren Buhl gehört, wurde er Wochen vor Bekanntwerden des Google-Streetview-Coups vom Magazin SocialNetworkStrategien interviewt. Buhl sagt dort, dass es kein Patentrezept für erfolgreiches Tourismus-Marketing gibt, und dass Social-Network-PR nur ein Teil im Marketing-Gesamtmix ist. Er bekennt jedoch, kein 9to5-Arbeiter zu sein, sondern einer, der seinen Job liebt und diesen eigentlich immer betreibt. Eine Einstellung, die er mit vielen anderen erfolgreichen Netz-Existenzen teilt.


quer - das politische, kritische, bayerische Magazin vom BR über Oberstaufen und Google StreetView

Buhl gelang es auch, maßgebliche Gemeindevertreter zu überzeugen. Der Rest ist bekannt und wurde in den letzten Tagen oft beschrieben. Just zu der Zeit, als landauf, landab entrüstete
Bürgermeister so taten, als wäre StreetView ein feindlicher Angriff auf ihre Städte, lud die Tourismusgesellschaft von Oberstaufen Google mit einer selbst gebackenen Torte und einem Video ein, Bilder einiger seiner Straßen und Plätze möglichst frühzeitig bei Street View aufzunehmen. Goolge ließ sich nicht lange bitten und kam dem Wunsch nach. Am 2. November, als die Bilder online gingen, wurde das Ereignis in Oberstaufen mit einer 1,20 Durchmesser großen Version der StreetView-Torte, Alphornbläsern, Großbildschirmen und viel erstaunter Medienpräsenz gefeiert.

Bleibt die Frage, was aus diesem Lehrstück eigentlich zu lernen ist? Dass andere Gemeinden ebenso berühmt sein könnten, wenn sie nur nicht so sehr gegen StreetView wären? Wohl kaum. Denn der Medien-Coup ist nicht reproduzierbar und beruht gerade auf dem mutigen Fußtritt gegen den vermeintlichen politischen Mainstream. Also was dann? Dass sich Fußtritte gegen den politischen Mainstream lohnen? Vielleicht. Aber sicher lohnen diese sich nicht immer. Allerdings immer öfter, zumindest in einer Zeit, da sich das von der politischen Kaste mehrheitlich vertretene Weltbild immer weniger mit dem der regierten Bevölkerung deckt. Ich denke, was man vor allem daraus lernen kann, ist, dass ein solches Lehrstück in causa StreetView/Deutschland einfach fällig war. Ein Zeichen im Namen der 97%, die kein Interesse haben, ihre Behausung verwischen zu lassen. Etwas, das die peinlichen Ausmaße, welche die German StreetView-Angst im Verlauf des Sommers angenommen hat, wieder gerade rückt.

Social-Media-PR-Consultants (also das, als was sich gefühlt etwa jeder zweite Twitterer beruflich bezeichnet) mögen aus der Oberstaufen-Geschichte vielleicht auch den Schluss ziehen, dass Microblogging- und Facebook-Kommunikation gerade in Branchen wie dem Tourismus schon heute mehr Bedeutung hat als klassisches Geo-Marketing. Allerdings zeigt das Beispiel auch, wie wichtig es ist, diese neuen Möglichkeiten richtig zu nutzen. Es muss ein echter, ungekünstelter und nicht einfach nur „animierter“ Dialog mit Usern stattfinden. Ein Dialog, bei dem auch User an die Pinnwand posten können. Ein Dialog, der nicht nur 9to5 stattfindet. Denn auch im Web 2.0 ist die Zeit, in der es einfach genügte, dabei zu sein, längst vorüber.

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