Zehn Thesen zum Problem intransparenter Gesetzgebung

01 Nov 2010 14:33

Transparenz ist zum Schlüsselbegriff geworden, sowohl in der Arbeitswelt, als auch in der Politik, bzw. bei dem, was sich Bürger unter einer lebendigen Demokratie vorstellen. Das Web hat technische Fundamente für mehr Transparenz geschaffen. Es liegt jedoch an den Menschen, diese auch zu nutzen, egal ob beim Produktmarketing oder in der Gesetzgebung. Das ist jedoch einfacher zu fordern als zu realisieren. Soeben ist ein in zehn Thesen verpackter Text erschienen, der zum Nachdenken darüber einlädt, warum unsere Gesetzgebung so intransparent ist, und wo man ansetzen könnte, um die Situation zu verbessern. Das Web spielt eine wichtige Rolle dabei.

Der Autor der Zehn Thesen zum Problem intransparenter Gesetzgebung, Maximilian Steinbeis, bittet ausdrücklich um Wiederveröffentlichung seiner Thesen, um deren Verbreitungsgrad zu erhöhen. Was zwar einerseits widersinnig erscheint in Anbetracht von Hyperlinks. Andererseits könnte es ja sein, dass hier bei Webkompetenz jemand zufällig mal nach Transparenz sucht, weil hier angeblich oder möglicherweise etwas über Transparenz-Effekte in CSS zu finden ist, und dann auf diese Thesen stößt. Das ist dann zwar negative Serendipity aus Sicht des Webseitenlayouts, das gerade gestaltet werden soll, könnte den Finder aber stattdessen auf neue, wichtige Gedanken bringen.

Der Originaltext stammt von einem Projekt namens Politikatlas, das von Maximilian Steinbeis betreut wird. Mit der Verbreitungsaktion des Thesentextes erhofft er sich natürlich auch mehr Aufmerksamkeit für den Politikatlas. Das Projekt, so die About-Seite, hat sich zur Aufgabe gemacht, Mindmaps wichtiger aktueller gesellschaftlicher Fragen zu erstellen. Dazu gehören Hintergrundinformationen, unterschiedliche Argumentationsketten und Abwägungen. Das Ziel ist, Interessierte auf die erforderliche Augenhöhe zu bringen, um tatsächlich am Diskurs teilnehmen zu können (statt sich nur am Stammtisch über alles aufzuregen).

Wiedergabe der zehn Thesen zum Problem intransparenter Gesetzgebung

1.

Gesetzgebung, wie überhaupt politische Gestaltung generell, kann in der heutigen pluralistischen Gesellschaft nur erfolgreich sein, wenn die Betroffenen in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Ohne den Input möglichst weiter Kreise der von der Regulierung Betroffenen ist die Gefahr, am Problem vorbeizuregulieren oder später an gesellschaftlichen Widerständen zu scheitern, übergroß.

2.

Der Gesetzgeber unternimmt – insbesondere auf EU-Ebene – zahlreiche Anstrengungen, diese Einbeziehung herzustellen: Diskussionsentwürfe, Eckpunktepapiere, Anhörungen, Veröffentlichung von Stellungnahmen, Grünbücher, Calls for Proposals etc. Das gelingt aber nur teilweise: Von der Gelegenheit, auf den Entscheidungsprozess einzuwirken, machen im Regelfall nur spezialisierte Interessenverbände und Wissenschaftler Gebrauch. Es entstehen Expertendiskurse, die de jure offen für breiten gesellschaftlichen Input sind, de facto aber weitgehend geschlossen verlaufen.

3.

Der Grund ist, dass nicht alle gesellschaftliche Interessen effektiv genug organisiert sind, um an den jeweiligen Debatten teilnehmen zu können. Aber das ist nur ein Teil der Erklärung: Daneben spielt auch die schiere Komplexität der zu regelnden Probleme und der denkbaren Lösungsansätze eine Rolle. Die Wirklichkeit verändert sich ständig, und alles hängt mit allem zusammen. Jede Lösung wirft neue Folgeprobleme auf, die ihrerseits nach Lösungsvorschlägen verlangen.

4.

Um an der Debatte auf Augenhöhe teilnehmen und seinem Standpunkt Gehör verschaffen zu können, muss man diese Interdependenzen, Verzweigungen und Verflochtenheiten durchdrungen und verstanden haben. Das ist enorm aufwändig. Diesen Aufwand zu betreiben, lohnt sich im Regelfall nur für diejenigen, für die entsprechend viel auf dem Spiel steht – also für die am unmittelbarsten Betroffenen.

5.

Die Folge: Input kommt im Regelfall von denjenigen, die hinreichend gut organisiert und von dem in Rede stehenden Gesetz so massiv finanziell betroffen sind, dass sich die Kosten für Referentenstellen und Gutachteraufträge rechnen. Alle anderen bleiben vom Diskurs ausgeschlossen.

6.

Damit entgeht dem Diskurs ein erheblicher Teil des Inputs, der für erfolgreiche politische Gestaltung eigentlich nötig wäre. Denn auch relativ diffuse und indirekte Betroffenheit kann, wenn sie im Entscheidungsprozess unberücksichtigt bleibt, die Entscheidung hinterher zum Entgleisen bringen.

7.

Daher ist es nötig, den Aufwand der Teilnahme am politischen Diskurs zu senken. Denn wenn der Aufwand sinkt, lohnt er sich auch für weniger massiv oder direkt Betroffene, und Interessen, die sonst ausgeschlossen wären, können teilnehmen.

8.

Den Aufwand zu senken, ist somit eine politische Aufgabe, der sich der Gesetzgeber annehmen muss. Er muss sich darum kümmern, die Debatten um politische Gestaltungsfragen zugänglicher zu machen und den Kreis der Inputgeber zu erweitern. Mit der bloßen Veröffentlichung von Gesetzesmaterialien und Stellungnahmen und herkömmlichen Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit und politischen Bildung ist es dabei nicht getan.

9.

Die Medien können bzw. wollen die Aufgabe, politische Debatten zugänglich zu machen, immer weniger leisten. Das liegt zum einen an den schwindenden Ressourcen der Verlage und Rundfunkanstalten, zum anderen aber auch an dem veränderten Charakter der Politik: Je mehr durch Verhandlung und Kompromiss anstelle von Polarisierung und Abstimmung entschieden wird, desto weniger lässt sich Politik noch als „Story“ darstellen. Der Ausweg, stattdessen Konflikte bzw. Personen in den Fokus der Berichterstattung zu rücken, kann auf Dauer kein adäquater Ersatz sein.

10.

Die besten Wege, Komplexität zugänglich zu machen, sind Interaktion und Visualisierung. Das Internet ermöglicht eine sehr leistungsfähige Kombination aus beidem: die diskutierten Probleme, Lösungen und Argumente im Gesamtzusammenhang graphisch abzubilden (policy mapping) und interaktiv erfahr- und navigierbar zu machen. Der „Politikatlas Schulreform“ (http://www.politikatlas.de/schulreform) ist ein erster Ansatz, diesen Weg in die Praxis umzusetzen.


Zehn Thesen zum Problem interaktiver Gesetzgebung von Maximilian Steinbeis steht unter einer Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Germany Lizenz.

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