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Was haben wir uns letztes Jahr aufgeregt und ereifert über Zensursula und ihren scheinheiligen Kinderschänder-Aktionismus zu Lasten der medialen Freiheit! Diese Welle ist mittlerweile verebbt, das Bloggervolk ist zur Ruhe gekommen, und das unglücklich inszenierte Zugangserschwerungsgesetz will selbst bei den Unionspolitikern niemand mehr. Doch diese Einsicht trügt. Denn was die geplanten Änderungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages vom Internet verlangen, geht noch viel weiter als das, was im Rahmen des Zensursula-Gesetztes je geplant war. Und diesmal ist es viel ruhiger. Gefährlich ruhig.
Der Stein des Anstoßes, also der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (Gesetzestext), regelt in Deutschland die Belange des Jugendschutzes in Bezug auf Tele-Medien. Zu der existierenden Fassung hat die Bundesregierung unlängst einen Neuentwurf vorgelegt. Darin sind einige Passagen enthalten, die bei näherer Betrachtung sehr weitreichende Regulierungsmaßnahmen bei Webangeboten vorsehen. Besonders problematisch ist dabei, dass — wie schon beim Zensursula-Gesetzesvorhaben — wieder die Zugangsprovider in die Pflicht genommen werden sollen.
Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (kurz: JMStV) richtet sich vor allem an die Anbieter von jugendgefährdenden Medien. Anbieter sind dem Entwurf zufolge „Rundfunkveranstalter, Anbieter von Plattformen im Sinne des Rundfunkstaatsvertrages oder natürliche oder juristische Personen, die eigene oder fremde Telemedien zur Nutzung bereithalten oder den Zugang zur Nutzung vermitteln“. Den Zugang zur Nutzung vermitteln im Internet die Zugangsprovider. Und diesen „Anbietern“ wird im Neuentwurf unter anderem Folgendes auferlegt: „Ist eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung im Sinne von Absatz 1 auf Kinder oder Jugendliche anzunehmen, erfüllt der Anbieter seine Verpflichtung nach Absatz 1, wenn das Angebot nur zwischen 23 Uhr und 6 Uhr verbreitet oder zugänglich gemacht wird. Wenn eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung auf Kinder oder Jugendliche unter 16 Jahren zu befürchten ist, erfüllt der Anbieter seine Verpflichtung nach Absatz 1, wenn das Angebot nur zwischen 22 Uhr und 6 Uhr verbreitet oder zugänglich gemacht wird. Bei der Wahl der Sendezeit und des Sendeumfelds für Angebote der Altersstufe „ab 12 Jahren“ ist dem Wohl jüngerer Kinder Rechnung zu tragen.“
Abgesehen von einer längst überholten bürgerlichen Sichtweise, der zufolge dem „Bösen und Unsittlichen“ die Nacht gehört, wird hier die abenteuerliche Forderung aufgestellt, dass Angebote, die als jugendgefährdend bzw. als erst für Jugendliche ab einer bestimmten Altersstufe eingestuft werden, nur in den Nachtstunden „gesendet“ werden dürfen. Für timeline-orientierte Medien wie Fernsehen mag das ja noch realisierbar sein. Doch im Internetbereich kann diese Forderung nichts anderes bedeuten, als dass Zugangsprovider Webangebote, die nach den Vorgaben des Vertrags einer Altersbeschränkung unterliegen, tagsüber einfach abschalten, „zensieren“ müssen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen.
Eine weitere juristendeutsche Passage, an der sich die Gemüter von Internet-Rechtlern erhitzen, dreht sich letztlich um jede Art von user generated content: „Die Kennzeichnung von Angeboten, die den Zugang zu Inhalten vermitteln, die gemäß §§ 7 ff. des Telemediengesetzes nicht vollständig in den Verantwortungsbereich des Anbieters fallen, insbesondere weil diese von Nutzern in das Angebot integriert werden oder das Angebot durch Nutzer verändert wird, setzt voraus, dass der Anbieter nachweist, dass die Einbeziehung oder der Verbleib von Inhalten im Gesamtangebot verhindert wird, die geeignet sind, die Entwicklung von jüngeren Personen zu beeinträchtigen. Der Anbieter hat nachzuweisen, dass er ausreichende Schutzmaßnahmen ergriffen hat“.
In diesem Fall wird der Begriff „Anbieter“ eigentlich so verwendet, dass, bezogen auf Internet-Inhalte, eigentlich kaum noch der Zugangsprovider gemeint sein kann. Denn was hat ein Zugangsprovider damit zu tun, was irgendwelche Leute in irgendwelche Blog-Kommentare, Forenbeiträge oder Social-Network-Statusmeldungen schreiben? Nach besserem Wissen jedes Internetnutzers hat ein Zugangsprovider nicht mal das Geringste damit zu tun, was überhaupt an Inhalten im Internet angeboten wird. Deshalb fühlen sich vor allem Anbieter von Websites mit Mitmach-Content durch die Passage angegriffen. Es wird befürchtet, dass damit generell die Praxis eingefürt werden soll, dass man von Usern beigetragene Inhalte erst nach redaktioneller Einsicht und Unbedenklichkeitsbescheinigung freischalten darf. Das, so weiß jeder User, der solche Services nutzt, wäre der Tod des modernen Web, inklusive Twitter, YouTube und Co.
Völlig ruhig ist es nicht. Die bekannten Sensor-Blogs haben längst zum Teil mehrfach über die Thematik berichtet. So etwa Alvar Freude im odem-Blog, Christian Köhntopp, netzwertig, Thomas Stadler und natürlich netzpolitik.org. Was bislang jedoch fehlt, ist das große Echo. In Twitter etwa hat das Thema derzeit keine Chance gegen den Hype um das iPad.
Ist das eine politische Wiederermüdung der Online-Szene, nach dem Aufbäumen im letzten Jahr? Vielleicht sogar eine stille Resignation angesichts des Ausgangs der Bundestagswahl vom letzten September? Oder ist vielen Onlinern nicht genau klar, worum es in diesem Fall überhaupt geht? Oder sind viele einfach der Ansicht, dass man das Thema nicht so heiß kochen müsse, weil es ja „nur“ ein Staatsvertrag zwischen Bundesländern und Bund ist, dessen Exekutive „nur“ Landesmedienanstalten, die Kommission für Jugendmedienschutz und die Organisation jugendschutz.net ist? Das mag harmloser klingen als polizeiliche Strafverfolgung, doch wie es ist, wenn die Post von einer solchen Institution erst mal im Briefkasten ist, durften die Macher des Assoziations-Blasters schon vor Jahren am eigenen Leib erfahren. Wachsamkeit und Aufklärungsarbeit gegen Regelungensverschärfungen, die fast jeden Inhaltsanbieter im modernen Web kriminalisieren, sind jedenfalls angebracht.
Hah, bin ich mal kritisch, hab sogar einen Kommentar vor ein paar Tagen getwittert *hust*
Nein, im Ernst, das schweigen verwundert erst einmal. Aber, und das meine ich ohne Hähme: die "Bewegung", daß sagte ich ja immer, muß nun zeigen, wie viel Atem sie in der APO-Zeit wirklich hat. Es gibt ja, da keine Wahl ist, eben kaum Bühnen, auf denen nun die politischen Gegner springen und auf denen man ihnen medienwirksam begegnen könnte. Entsprechend wenig Elan ist da. Ohne Yeaaah Gerufe und Fahnenschwenken macht Politik eben nur halb so viel Spaß. (und ja, auch mir nicht!)
Außerdem war, auch wenn manche jetzt zucken, in ihrer Art Frau von der Leyen eben recht attraktiv… als Gegnerin. So schön griffig. Immer gut für einen Zensurula-Papperl.
Jetzt wird die Politik alltagsgrau und da rutscht manches denen leichter an der Gemeinde vorbei durch.
Was ich, zur Sache selbst, einfach noch nicht so richtig verstehe: wenn ich, über 18 Jahre alt, jugendgefährdete Medien konsumieren möchte, kann ich das ja auch tagsüber. Jeder Zugangsanbieter, vom Sexshopbetreiber bis hin zur Puffmutter, kontrolliert einfach meine Volljährigkeit. An der Tür ist für jüngere Schluß. Das ist doch beim Internet schon längst so: keiner unter 18 Jahren bekommt doch einen Vertrag mit einem Provider. (jaja, ich laß jetzt mal die öffentlichen Zugänge kurz beiseite…) - Klar, meine Kinder könnten jetzt bei mir bis zur Besinnungslosigkeit Pornos konsumieren, aber bisher hat der Staat doch auch nicht kontrolliert, wo ich meine Pornoheftchen in der Wohnung liegen lasse.
Letztendlich bin also doch eben ich, als Erzeihungsberechtigter, der Zugangs"provider" für meine Kinder. Und wenn nun der Staat meint, ich mache das schlecht, dann soll er mir das mal sagen. Und nicht in meinen Vertrag, den ich als Erwachsener geschlossen habe, reinpfuschen. (Außer freilich, er will MICH vor Pornos etc schützen, dann würde ich aber gerne noch ein Wörtchen dazu fallenlassen dürfen…)
Diese Entwicklung entmündigt mich also nicht als Konsument an erster Stelle, sondern als Erziehungsberechtigten. Diesem Part traut der Staat wohl immer weniger zu.
Geht es nun dann also doch nur noch um die öffentlichen Zugänge, müsste es ja auch um deren Anbieter gehen, also diejenigen, die ihren "Erwachsenenvertrag" allen Minderjährigen zugänglich machen. So wie ein Schnapsverkäufer, der seine Ware mit Ausweis im Supermarkt kauft und vor dem Supermarkt dann den Kindern weiter reicht.
Wollte dazu eigentlich auch schon einen eigenen Blogeintrag verfassen, trifft sich aber gut, dass ich meine Gedanken nun einfach hier so lose reinschreiben kann.
Wie mein Vorredner schon sagt, ist wohl die komplette Erscheinung der Ursula von der Leyen zu ihrem Problem geworden. Ihr Populismus zog Hass auf sich, ihre sture Art und dass sie quasi alles im Alleingang bestritt; das alles schaffte ein griffiges Bild. Das Schlagwort Zensursula besorgte den Rest.
Beim JMStV geht es den Machern aber nicht um Wiederwahl oder Ruhm, wie das bei Zensursula der Fall war. Es scheint gar so, dass vermieden wird, das Thema zu stark aufkochen zu lassen. Anstatt eines Gesetzes wählte man einen Vertrag, das klingt viel sanfter, das kann man noch rückgängig machen, „Was schreit ihr denn so?“.
Hinzu kommt, dass die Personen, die hinter dem Vertrag stehen, zum Einen gar nicht erst groß in Erscheinung treten und zum Anderen auch nicht wirklich greifbar sind. Es gibt keine umfassenden Reden des Herrn Beck, keine populistischen Aussagen des Herrn Stadelmaier und kein Interview mit Herrn Ring. Zumindest ist mir das alles nicht bekannt.
Gefährlich ist der Staatsvertrag also nicht nur, weil er gefährlich ist, sondern auch, weil hinter ihm keine Personen stehen, die ordentliche Zielscheiben abgeben.
Gute Analysen hier!
Ich hab das Thema immer wieder mal verlinkt, getwittert etc., aber auch noch keinen Artikel dazu geschrieben. Jetzt kann ich gut drüber nachdenken, warum eigentlich nicht…
Tja, das neue Regelungspaket ist halt riesig und kompliziert, ein GANZER Vertrag mit zig Regeln (nicht nur eine einzige Sauerei..), die man aus komplex verschachtelten Langsätzen in juristischem Öd-Sprech heraus klauben muss, auch keine hilfreichen Aktionsfelder und Events (wie Petition oder Wahl), auch keine griffigen Gegner - wirklich nix, was leicht vom Hocker reisst!
Dann ist da noch der Jugendschutzgedanke, den ja viele nicht so ganz falsch finden: schon wieder kommt man womöglich auf ein Gleis, wo man gar nicht hin will (analog "Kipo").
Was tun?
Ich schlage vor,
a) Argumente zu verdichten und uns kommunikativ und kreativ auf EINEN PUNKT zu konzentrieren, der das Web as we know it am meisten gefährdet: nämlich die Provider für die Inhalte verantwortlich / haftbar zu machen.
b) da die Politik keine griffigen Gegner zu diesem Thema bereit stellt, suchen wir doch attraktivere Ansprechpartner, die ebenfalls involviert sind: wie wärs mit Telekom/T-Online ("Erleben, was verbindet" ) und Vodaphone (hey, es ist UNSERE Zeit!), natürlich auch O2 (Can do?), Alice ("Wir machen uns stark für Sie!") u.a.
Die schweigen bisher schön stille und mauscheln allenfalls brav in nicht-öffentlichen Gesprächen mit Politik&Verwaltung. SIE sind technisch und vertraglich unsere Torhüter ins Netz - die sollen verdammt nochmal Stellung beziehen. Und: Es kann ja nicht wirklich in deren Interesse sein, für jedes Forum und jede Website Zensur/Prüf/abschaltpflichtig zu werden.
Es gibt also gute Aufhänger, um sie aufzufordern, Farbe zu bekennen - schließlich bemühen sich einige von ihnen ja angeblich um den guten Kundenkontakt per Social Media und machen da Eigen-PR. Man muss sie mal beim Wort nehmen, angefangen bei ihren Slogans..
Ob sie dann Gegner oder Verbündete werden, wird sich zeigen - eine etwas "massivere" Ansprache mittels reizvoller Web-Aktionen immer voraus gesetzt.
Hallo Claudia,
in dem Zusammenhang muss ich wirklich mal meinen DSL-Provider 1&1 loben. Die gehörten schon letztes Jahr zu denen, die am deutlichsten Stellung gegen das Zensursula-Gesetz bezogen haben und angekündigt haben, sich bis zum endgültigen Inkrafttreten keinesfalls daran zu halten. Und jetzt haben sie wieder sehr deutlich Stellung genommen:
Klasse Leistung für einen Provider, finde ich. Würden sie mal damit Werbung machen statt mit ihrem Kundenzufriedenheits-Center :-)
Ich habe jetzt keinen Überblick, wie publik das oben verlinkte Dokument schon ist (die scriptd-Publikation ist eigentlich etwas obskur für so was). Den Text finde ich aber sehr fundiert. Vielleicht könnten andere Provider bewegt werden, sich da mal anzuschließen.
viele Grüße
Stefan Münz
Na, ist ja irre, dieses Dokument! Inhaltlich super, aber mittels exotischer "Zeigetechnik" quasi doch VERSTECKT. Und es haben grade mal 39 Leute gelesen (siehe Zählung links unten).
Allein die Ladezeit ist so, dass über die Hälfte abspringt, bevor es sich aufgebaut hat.
Na, das ist aber mal ein guter Grund, umfassende Zitate in normalem HTML irgendwo zu bringen… :-)
Hierzu gibt es einen Blogeintrag von 1&1 unter dem Titel "Das Ende der freien Kommunikation im Internet?" an dessen Ende die Stellungnahme als PDF verlinkt ist.
Hallo Frank, danke für den Link zu dem doch etwas "offizielleren" PDF!
viele Grüße
Stefan Münz
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