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Das meist aus den Staaten herüberschwappende Fragen nach dem „nächsten großen Ding“ im Netz kreist seit Monaten tendenziell um den Komplex der Social Applications. Immer wieder wird gefragt, was wohl nach Twitter und Facebook kommen mag. Doch die Frage ist in dieser Form falsch gestellt. Weniger das Repertoire der Anwendungen wird sich verändern, sondern die Art, diese Anwendungen zu nutzen, und die zunehmende Bedeutung solcher Anwendungen für die „Mitte der Gesellschaft“.
Das Karusell dreht sich weiter. Die ewig Fiebrigen besorgen sich derzeit Accounts bei neuen, hoch gehandelten Webservices wie Formspring (einfach nur Fragen gestellt bekommen und beantworten) oder Foursquare (nicht mehr „wer kennt wen?“, sondern „wer ist gerade wo?“). Sicherlich wird für den einen oder anderen Service dieser Art noch eine Etablierungs-Nische frei sein. Und im Einzelfall wird ein solcher Service auch noch manch neuen Experten bekannt machen oder Restaurant-Besitzer beglücken. Zumindest meiner Glaskugel zufolge ist es jedoch eher unwahrscheinlich, dass von der Art der Anwendung die nächsten wichtigen Veränderungen ausgehen werden.
Viel wichtiger werden folgende Aspekte sein:
- Verdichtung der Vernetzung: Immer mehr Leute werden die gleichen Anwendungen einsetzen. Eltern und ihre Kinder, Anbieter und ihre Kunden treffen zunehmend in Facebook oder an vergleichbaren Orten aufeinander, mit all den spannenden und teilweise brenzligen Folgen, die das hat. Vor allem der eigene Facebook-Account wird allmählich so wichtig wie derzeit eine eigene E-Mailadresse, und irgendwann so wichtig wie eine eigene Telefonnummer. Vorausgesetzt, Facebook macht keine dummen Fehler.
- Allgegenwärtigkeit des Netzes: Das Netz wird immer präsenter, weil mehr und mehr mobile Zugangsgeräte jenseits der klassischen Mobiltelefone dafür sorgen, dass das Netz immer und überall mit dabei ist. Der Mobilfunk-Breitbandausbau und bezahlbare Mobilfunk-Flatrates werden diesen Trend stark begünstigen. Auf dem Hardware-Markt für die entsprechenden Geräte wird es voraussichtlich heiß her gehen, vor allem weil die Grenzen zwischen Mini-Notebooks, Netbooks und Smartphones teilweise verschwimmen.
- Wandel im Besitzdenken: Immer mehr Leute werden sich daran gewöhnen und es normal finden, Daten nur zum Konsumieren aus dem Netz zu holen, sie ansonsten aber dort zu lassen. Als „Besitz“ werden sie nicht mehr jene Daten empfinden, die sie dem Netz „entreißen“ und in den sicheren Hafen der eigenen Festplatten bringen, sondern Daten, auf die sie exklusiv zugreifen können. Mit steigenden Bandbreiten, flexiblem Netzzugriff (siehe Punkt 2) und der immer weiter wachsenden natürlichen Vertrautheit mit dem Netz wird Cloud-Computing, also Datenhaltung und Datenverarbeitung im Netz, für immer mehr Leute zum Normalfall.
- Netzpolitische Spannungen: Während immer mehr „common people“ im Social-Networking, Mobile- und Cloud-Computing ankommen, wird die Lage für Unternehmen, die krampfhaft versuchen, mit dem modernen Netz inkompatible Geschäftsmodelle zu retten, immer prekärer. Rückwärtsgewandte, aber mächtige Lobby-Verbände werden die Politik zunehmend unter Druck setzen, netzfeindliche Regulierungen zu schaffen. Das wiederum wird für Unruhen im Netz sorgen, die wiederum die bewusste Verabschiedung immer weiterer Teile der Bevölkerung von den politischen Organisationsformen des 20. Jahrhunderts beschleunigt.
Das Jahr 2009 hat viele Menschen dazu gezwungen, althergebrachte Ansichten über das Internet, seine typischen Nutzer und sein Potential zu überdenken. Während 6jährige bereits vernetzt spielen wollen und 12jährige eigene Server installieren, reden Pädagogen, die kaum einen Computer einschalten können, immer noch mit Expertenmine davon, wie schädlich mehr als eine halbe Stunde Internet am Tag sei. Ein politischer Profilierungsversuch auf Kosten der Netzfreiheit, wie ihn Ursula von der Leyen unternommen hat, wäre vor wenigen Jahren noch problemlos geglückt, doch 2009 hat er binnen weniger Wochen zum In-Erscheinung-Treten einer völlig neuen politischen Bewegung geführt. „Wir lassen uns das Netz nicht (mehr) wegnehmen“, so ein wachsender Chor von Kindern bis Großeltern, Nerds und Normalos.
Mit „wolkigen“ Aussichten für 2010 sind also keineswegs trübe Aussichten gemeint. Es ist die Tendenz zum „Leben im Netz“, die sich im kommenden Jahr weiter verstärken und in die breite Masse der User vordringen wird. Wenn das Chrome OS noch ein wenig stärker der alten Desktop-Welt entgegen kommt und beispielsweise so etwas wie eine API für reine Offline-Anwendungen anbietet, dann ist sein Konzept, gemeinsam mit entsprechender Hardware, zweifellos das Konzept der Zukunft: schnell und schlank, je nach bevorzugter Nutzung leicht und mobil oder als stylishes Heimkino, per Default immer online wie ein Handy, und last but not least: OpenSource. Der Widerstand ist derzeit noch groß in vielen Köpfen, weil niemand, der heute noch dem Desktop-Computing des alten Wintel-Imperiums verhaftet ist, einsieht, von heute auf morgen auf „Netzbetrieb“ umzuschalten. Der Wandel findet nur als Prozess statt. Er beginnt damit, dass User zunehmend Services wie Social Networking oder Foto-Sharing-Services benutzen und dadurch zunehmend für sie wichtige Daten im Netz halten, ohne sich dessen zunächst so richtig bewusst zu sein. Kaum merklich vollzieht sich dabei ein Umdenken dahin, eigene Daten im Netz als genauso eigen und normal zu empfinden wie eigene Daten auf lokalen Datenträgern. Mit dem großen Vorteil, dass diese Daten erstens geräteunabhängig verfügbar sind und zweitens mit anderen Usern geteilt werden können.
Die tendenziell höhere Transparenz von Daten im Online-Modus ist nicht wegzudiskutieren. Doch genausowenig, wie es üblich ist, mit Kameras durch Katzenklappen in fremde Häuser einzudringen, wird es üblich sein, bewusst in verfügbaren Datenprofilen von Netzbürgern herumzuschnüffeln. Nur eine kontrollgeile Politik könnte dies wollen. Stattdessen geschieht genau das Umgekehrte. Das Netz wird immer gnadenloser damit, die Politik und alle Arten der herrschenden Kasten zu kontrollieren. Leaken wird immer üblicher, mit allen Konsequenzen in Bezug darauf, wem das Volk vertraut, und ob es den herkömmlichen politischen Strukturen überhaupt noch vertraut. In diesem Sinne wird das Jahr 2010 sicherlich zu weiterer netzpolitischer Gewittertätigkeit neigen.
Es wird ja auch Zeit. Schließlich geht in knapp zwei Jahren die Welt unter. Oder etwa doch nicht? Für das zuende gehende Jahr 2009 wünsche ich den Lesern dieses Blogs jedenfalls einen Ausklang nach Wunsch. Nach einer kleinen Weihnachts- und Neujahrspause wird es nächstes Jahr weitergehen mit neuen Artikeln. Diskussionen zu Artikeln oder im Forum sind natürlich bis dahin weiterhin möglich und erwünscht.

"Während 6jährige bereits vernetzt spielen wollen und 12jährige eigene Server installieren, reden Pädagogen, die kaum einen Computer einschalten können, immer noch mit Expertenmine davon, wie schädlich mehr als eine halbe Stunde Internet am Tag sei."
Ja, lustig, so etwas gibt es noch.
Die Regulierungsversuche des Internets sind jetzt in Deutschland aber gerade auf "wartend" gesetzt. Zumindest so lange die FDP mitrudert, wird sich diesbezüglich wohl nichts mehr tun.
Und irgendwann wird sich auch in Politikerkreise herumgesprochen haben, dass das Internet per se nicht regulierbar ist.
Thank you for the information, it will surely help me a lot.
Cheers!!!
thesis
Aahh, endlich bekomme ich auch mal Kommentar-Spam! Vielen Dank für die Ehre — und wie gut, dass ich meine Magisterarbeit zu einer Zeit geschrieben habe, als man noch Zeit hatte zum Selber-Recherchieren ;-)
viele Grüße
Stefan Münz
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