10 Dec 2009 21:13
Eines der wichtigsten Merkmale des Web ist es, dass Hyperlinks darin unidirektional sind. Das bedeutet: wenn jemand in Inhalt A einen Link auf Inhalt B setzt, dann gibt es einen Link von A nach B, aber nicht von B nach A. User, die auf Webseite A landen, können dank des darin enthaltenen Links leicht zu Webseite B finden, doch User, die zuerst auf Webseite B landen, finden nicht ohne weiteres nach A, weil es in dieser Richtung keinen Link gibt. Das hat völlig andere Konsequenzen, als wenn alle Links automatisch bidirektional wären.
Wenn es nach Ted Nelson gehen würde, hätten wir heute ebenfalls ein weltweites Hypertextsystem, das sich aber in einigen wesentlichen Punkten vom World Wide Web unterscheiden würde. Unter anderem dadurch, dass Links darin bidirektional wären. Lassen wir mal technische Aspekte wie die erforderliche Schreibberechtigung für Rückverweise auf verlinkten Servern beiseite und sinnen ein wenig nach, welche sozialen Konsequenzen eine konsequente, automatische Bidirektionalität zumindest bei Links zu fremden Websites hätte.
Würde ein unbekannter Blogger einen Link zu einem viel beachteten Artikel auf SPIEGEL Online setzen, so würde von dem vielbeachteten Artikel auch ein Rückverweis zu dem unbekannten Blogger führen. Das klingt fantastisch, denn so könnte der unbekannte Blogger ohne viel Aufwand von der Bekanntheit des Online-Magazins profitieren. In der Praxis würde die Rechnung allerdings nicht aufgehen. Denn natürlich würden alle anderen unbekannten Blogger in den gleichen Genuss kommen wollen und ebenfalls auf den viel beachteten Magazin-Artikel verlinken. Dort würde eine immer weiter anwachsende Liste an Rückverweisen entstehen, die wahrscheinlich kein Leser mehr ernst nehmen würde. Der Mehrwert-Effekt wäre dahin, und es gäbe eine Unzahl von Links, die kaum inhaltlich motiviert wären, sondern allein durch den Wunsch nach Aufmerksamkeit. Was also im interesselosen, rein wissenschaftlichen Kontext, den Ted Nelson wohl ursprünglich im Sinn hatte, funktionieren mag, würde auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, also im massentauglichen Web, keine wirklichen Vorteile bringen.
Dennoch wird es immer wieder versucht. Zum Beispiel mit Hilfe der sogenannten Pingbacks. Pingbacks kommen innerhalb der Blogosphäre häufig zum Einsatz. Setzt Blogger A in seinem Artikel A1 einen Link auf Artikel B2 von Blogger B, so sendet die pingback-fähige Blogsoftware von Blogger A via HTTP automatisch eine XML-RPC-kodierte Nachricht, einen sogenannten Blog-Ping, an den Webserver von Blogger B, wo dessen Blog-Software die Nachricht verarbeitet und unterhalb des Artikels B2 als Rückverweis zum Artikel A1 von Blogger A einfügt.
Pingbacks sind eine wunderbare Einrichtung, solange ganz normale Blog-Artikel ganz normale, thematisch passende oder ergänzende Links zu Artikeln anderer Blogs enthalten. Da externe Links auf eigene Inhalte jedoch ein wichtiges Kriterium sind, um in Suchmaschinen besser platziert zu werden, werden Pingbacks häufig auch so generiert, dass sie nur noch als Spam zu bezeichnen sind. Nicht wenige Blogger deaktivieren die automatischen Pingbacks in ihrem Blog, weil diese nur noch als Spamschleudern fungieren. Die Spam-Problematik wird dabei um so größer, je bekannter ein Blog ist. Der Grund ist in diesem Fall, dass Suchmaschinen Links von bekannten fremden Seiten auf eigene Seiten besonders hoch gewichten. Das wurde in der Vergangenheit von vielen No-Content-Blogs genutzt, die eigentlich nur wegen ihrer Werbeeinblendungen existieren. Diese generierten sinnlos Pingbacks auf bekannte Blogs, um so an wertvolle Backlinks zu kommen.
Bidirektionale Links, so lässt sich an dieser Stelle festhalten, sind aus Hypertext-Sicht im Web eigentlich nur dann sinnvoll, wenn beide Parteien der Verknüpfung Webangebote sind, die eine vergleichbar große Aufmerksamkeit genießen, und die sich ausschließlich aus inhaltlich motivierten Gründen verlinken.
Die Betrachtung ist damit aber noch nicht ganz zuende. Denn an dieser Stelle setzt ein Artikel mit dem Titel Die Macht der bidirektionalen Link-Gravitation an. Wer jetzt allerdings gespannt auf neue, wissenschaftlich fundierte SEO-Erkenntnisse hofft, wird enttäuscht sein. Denn der Artikel stammt aus dem Esoterischen SEO Blog, einem „satirisch-esoterischen PSI-Ausflug in die Welt der Suchmaschinenoptimierung“.
Dennoch kein Grund, den Gedanken der bidirektionalen Link-Gravitation nicht zumindest mal im Kopf zergehen zu lassen. Im Modell dieser Theorie gibt es sogenannte Trust-Sites. Das sind bekannte Webangebote mit richtig hohen Userzahlen. Unter anderem sind diese Webangebote deshalb so bekannt, weil es sehr viele freiwillige Links dorthin gibt. Die bekannte Website wird, so das Modell, zu einer Art Trust-Center, zu einem vertrauenswerten und vertrauten Zentrum. Um es herum entsteht eine Art Sphäre des Vertrauens. Websites, die auf die bekannte Website verlinken, begeben sich in die gleiche Sphäre des Vertrauens. Und, so die aufgestellte Theorie, davon profitieren sie! Zitat: „die anderen Websites, welche bereits um die Trustsite im Trust-Ring ihre Bahnen ziehen, strahlen über die im Zentrum liegende Trustsite ihre thematische Power auf unsere Seite ab.“
Das ist zweifellos der Moment, in dem der PSI-Factor allen rechtschaffenenen Verstandesmenschen so zusetzt, dass sie kopfschüttelnd aussteigen. Und eines ist gewiss: es ist kaum möglich, dieses Gedankenkonstrukt empirisch zu verifizieren, geschweige denn, es im Sinne strenger Wissenschaft mit Falsifizierungsversuchen zu befeuern. Dennoch sagt meine Erfahrung, dass die Theorie nicht völlig gaga ist. Dank des SELFHTML-Projekts hatte ich einmal die Chance, Beobachtungen aus Sicht einer Trust-Site zu machen. Es gibt wahrscheinlich keinen Google-Algorithmus, der Sites, die gemeinsam haben, dass sie auf eine Trust-Site verlinken, irgendwie im Ranking einander angleicht und tendenziell erhöht. Doch es gibt Menschen, die kommunizieren. Ich konnte oft genug beobachten, wie sich Web-Anbieter, die zunächst nur eines gemeinsam hatten, nämlich dass sie sich SELFHTML verbunden fühlten, eben deshalb kennen und schätzen lernten. Das führte natürlich auch zu Verlinkungen zwischen diesen Anbietern. Es entstand also so etwas wie eine durch die Trust-Site ermöglichte Linkverdichtung zwischen Sites, die sich im Bannkreis der Trust-Site befanden. Genau das Gleiche spielt sich heute wohl auch in der Blogosphäre im Bannkreis rund um Top-Blogs wie Netzpolitik oder Spreeblick ab.
Es funktioniert aber nicht bei Sites wie EBay oder Amazon. Nicht, weil diese zu groß sind, sondern weil jeder weiß oder spürt, dass diese Sites ausschließlich aus generierten dynamischen Inhalten bestehen, ohne Menschen dahinter, die aktuell ihren Hirnschweiß vergießen, um bestimmte Ziele zu erreichen oder etwas zu bewirken. Es funktioniert nur dann, wenn die Trust-Site und ihre Satelliten-Sites eine Art Site-Community mit „gemeinsam gefühlten“ Visionen bilden.
Es ist kein Mangel, dass Links im Web unidirektional sind, es ist schlichtweg realitätskonform. Bidirektionalität setzt, um einen echten Mehrwert für alle Beteiligten (also auch die Rezipienten) zu haben, ungefähr gleich große Bedeutung und Wahrnehmung der verlinkten Sites voraus, was im Web meistens nicht der Fall ist. Doch Bidirektionalität bleibt der Wunsch, das Ziel, die Hoffnung, das Ideal. Bidirektionalität ist so etwas wie Link-Kommunismus im marxschen Vollkommenheitsstadium. Es ist ein Traum der gleichen Kategorie wie der, den das Echtzeit-Web in seiner Hoffnung auf zeitgleicher Übereinstimmung träumt, gipfelnd in retweet-bewirkten Flashmobs für einen guten Zweck oder gegen einen offenkundigen Missstand. Es ist nicht so sehr eine Frage der Technik. Es ist eine Frage der Ausbalancierung von Inhalten.
Ich hatte im Zusammenhang mit verteilten Projekten einiges angesammelt über den Propinquity Effect. Ein ähnlicher Effekt könnte auch hier "zuschlagen", und zwar etwa in der folgenden Weise:
Ein Experiment zur Falsifizierung Deiner These könnte also etwa so aussehen:
Praktisch muß man wahrscheinlich der Zufallsauswahl auf die Sprünge helfen, um eine relevante Anzahl von User-User-Paaren in die Stichprobe zu bekommen.
Die folgenden Fragen fände ich an so einem Experiment spannend:
Das Thema wurde auch von Tim Berners-Lee in einem Vortrag am CERN (etwa 1998) besprochen, damals unter der Überschrift "Cultural Potholes". Soweit ich mich erinnere, sah er es als Gefahr, daß sich im Web überwiegend Menschen nach Meinung zusammenfinden könnten anstatt nach Thema, also daß verschiedene Meinungen zum gleichen Thema sich nicht mehr begegnen und sich Meinungs-spezifische Subkulturen bilden anstelle von Meinungs-bildenden.
Last but not least: Ted Nelson war ja etwa 30 Jahre vor Tim Berners-Lee unterwegs. Ted hat sich bewusst für bidirektionale Links entschieden, weil sie seines Kontext, nämlich innerhalb geschlossener Benutzergruppen, sinnvoller waren. Tim hat sich bewusst gegen bidirektionale Links entschieden. Die Notwendigkeit für einen (irgendeinen!) "Kontrakt" zwischen den Link-Partnern erschien ihm als wesentliches Adoption-Hindernis - und die Ausbreitung des WWW gibt ihm recht.
Hallo Josef,
vielen Dank für deine spannenden Ausführungen! Den Gedanken, dass unter den "Anhängern" einer Trust-Site eine erhöhte Interessensähnlichkeit besteht, was bei gegenseitigem Kennenlernen zu einer erhöhten gegenseitigen Verlinkungsbereitschaft führt, wodurch letztlich ein Linkgeflecht rund um die Trust-Site entsteht, das diese gar nicht direkt berührt — diesen Gedanken finde ich durchaus nachvollziehbar. Es hängt jedoch meines Erachtens stark von der Art der Trust-Site ab, ob die Betreiber von "Fan"-Sites überhaupt eine Chance haben, sich im Umfeld der Trust-Site kennenzulernen. Eine Möglichkeit besteht darin, dass die Trust-Site eine richtige Community hat. Andere Trust-Sites, wie etwa SpON oder Netzpolitik.org, generieren sicherlich über ihre oft ellenlangen Kommentarlisten unterhalb von wichtigen Artikeln eine Menge Interesse der Kommentatoren untereinander, was sicherlich schon in vielen Fällen zu gegenseitiger Verlinkung geführt hat.
Allerdings ist das dann keine Bidirektionalität auf Link-Ebene, sondern auf allgemeiner Wertschätzungsebene. Es schlägt sich darin nieder, das man öfters mal auf den jeweils anderen verlinkt. Aber eben nicht so, das sich einzelne Links direkt aufeinander beziehen. Es ist eher so, wie wenn sich zwei Leute auf Twitter gegenseitig folgen.
Danke übrigens auch, dass du einen Gedanken zuende gebracht hast, den ich ursprünglich hatte, als ich diesen Blogartikel hier begann, zu dem ich am Ende aber irgendwie nicht mehr recht gekommen bin: nämlich dem Gedanken, dass unidirektionale Links zwar "primitiver" sind als bidirektionale, aber dass sie letztlich mehr Freiheiten lassen und auch präziser abbilden, was sich auf was bezieht.
viele Grüße
Stefan Münz
Hi Stefan,
mir fehlt in deinem Artikel ein echter Grund für die Bidirektionalität! Du führst im Gegenteil etliche gute Gründe an, warum das nichts bzw. das Falsche bringen würde - und doch schreibst du am Ende:
"Doch Bidirektionalität bleibt der Wunsch, das Ziel, die Hoffnung, das Ideal."
JA WARUM DENN? Du präferierst einen Automatismus, wo bis jetzt menschliche Bewertung und Entscheidung herrscht! (Nämlich das freiwillige gegenseitige Verlinken oder auch Nicht-Verlinken) Wogegen es doch eigentlich viel dringlicher ist, wieder mehr menschliche Wertung/Bewertung in die Such- & Finde-Algorithmen einzubinden (worum Google sich ja auch bemüht, z.B. mit der Möglichkeit, Seiten in den Ergebnissen hoch und runter zu wählen). Auch Peter Kruse betont die Dringlichkeit, dass sich eine kollektive Intelligenz entwickelt, die qualifiziertere Ergebnisse bringen muss als bloß quantitative "wird viel aufgerufen" bzw. "will kaum jemand lesen"-Bewertungen.
Es ist doch derzeit so, dass die Webseiten- und Blogbetreiber es durchaus mitbekommen (können), welche Linkis auf ihre Seiten gesetzt wurden. Und wenn sich darunter Seiten befinden, die quasi "verwandt" bzw. demselben Thema auf förderliche Art zugewendet erscheinen, dann wird sich der Eigner für sie interessieren, evtl. die Macher kennen lernen und sie auch verlinken.
Dass die traditionellen Medien ihren Linkgeiz pflegen, hat doch andere, nämlich Marketing-Gründe. Die glauben, es nütze ihnen, die Surfer nicht anderswohin "zu schicken", weil dann den Werbekunden im eigenen Web keine "möglichen" Seitenaufrufe entgehen. (Dabei ärgert es mich z.B. maßlos, wenn ich mir Seiten, die sie ansprechen oder womöglich gar rezensieren, noch selber ergoogeln muss!).
Kurzum: was ist das Tolle an bidirektionalen Links? Aus deinem Artikel geht nicht wirklich hervor.
Hallo Claudia,
was das Tolle an bidirektionalen Links ist, geht aus meinem Artikel tatsächlich nicht hervor. Wahrscheinlich deswegen, weil ich sie eigentlich selber auch gar nicht so toll finde. Ursprünglich lautete der Titel des Artikels "Die Macht unidirektionaler Links" und sollte genau das beschreiben, was du beschrieben hast, nämlich den "menschlichen Vorteil" gegenüber eines Automatismus, der in vielen Fällen vermutlich gar nicht sinnvoll wäre. Was man dem Artikel vorwerfen sollte, ist also, dass er seine ursprüngliche Message nicht richtig rüber gebracht hat :-)
viele Grüße
Stefan Münz
"Bidirektionalität ist so etwas wie Link-Kommunismus im marxschen Vollkommenheitsstadium."
Wenn das "Ideal" unerreichbar ist, dann ist es kein Ideal, sondern oft einfach nur etwas Schlechtes.
Bei der Bidirektionalität von Webverweisen springen die Nachteile auch sofort ins Auge, eigentlich genauso wie beim Sozialismus in nationaler oder internationaler Form.
Guter Artikel, leider verwendest du als Referenz für deine Argumentation Pingbacks und handelst den technischen Aspekt bidirektionaler Links in einem Satz ab. Genau hier sehe ich den Fehler: es kann durchaus sein, dass eine konkrete technische Realisierung bidirektionaler Links die Probleme, die du am Beispiel der Pinkbacks beschreibst, vermeiden würde.
Aber sicher, das Internet war nicht für die Masse gedacht und wurde auch so technisch realisiert. Es hat sich aber "gewandelt", sprich angepasst, so das nun eine ganze Menge an Menschen das Internet für verschiedenste Interessen nutzen kann. Von daher behaupte ich, das sich das Netz auch um bidirektionale Links herum entwickelt hätte und genau so effektiv wäre wie jetzt.
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