Notizen aus Waveland

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Auf alle, die noch keinen Zugang zu Google Wave haben oder noch gar keinen Zugang dazu haben wollen, mag ein neuerlicher Beitrag zu diesem Thema vielleicht störend wirken. Doch nur was den Blogger beschäftigt, füllt sein Blog. In diesem Artikel geht es eher um soziale Aspekte von Wave. Innerhalb der noch kleinen Wave-Gemeinde herrscht nämlich teilweise eine Gründerstimmung, die mich irgendwie an die Anfänge des Web-Booms Mitte der 90er Jahre erinnern.

Was hier beschrieben wird, ist eher als Zeitzeugendokument gedacht. Denn in fünf oder zehn Jahren wird es die hier vorgestellten Waves in dieser Form wohl kaum noch geben. Die meisten öffentlichen Waves, die derzeit losgetreten werden, sind viel zu allgemein angelegt. Man muss sich das in etwa so vorstellen, als ob jemand in einem Web-Forum einen Thread beginnt mit dem Titel „HTML und CSS“ und im Start-Posting schreibt, das sei der Thread, in dem die ganze Welt alles, was rund um HTML und CSS zu fragen oder zu diskutieren sei, fragen und diskutieren könne.

So viel Schlichtheit hat Chame. Und es ist keineswegs dumm, jetzt solche Waves zu starten. Einige davon werden vielleicht legendär werden. Und ihre Initiatoren oder Haupt-Protagonisten werden vielleicht über Nacht zu Alpha-Tieren des neuen Netzsiedler-Kontinents. Vielleicht auch nicht. Eines jedoch erscheint jedenfalls mehr als wahrscheinlich: nämlich dass Wave ein eigenes Milieu für öffentlichen und halböffentlichen Austausch entwickelt, mit eigenem Ehrenkodex und eigener Netiquette, so wie Mailinglisten, Usenet oder IRC-Chat. An einigen der weiter unten vorgestellten Beispielen wird hoffentlich deutlich, warum gerade die Freiheiten, die Wave in technischer Hinsicht bietet, soziale Organisation um so mehr herausfordern.

Ein kleiner typologischer Überblick über das, was derzeit an typischen public waves geboten wird, kann auch helfen, einen Blick dafür zu entwickeln, was man im nächsten Schritt probieren könnte, oder was als nächstes kommen könnte. Noch wird nichts belächelt in Waveland, noch ist alles erlaubt, und alles dient der weiteren Inspiration.

Wellen von Stadt Land Fluss

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am Beispiel: Braunschweig

Egal ob ganze Länder wie Deutschland (suche German Wave Users with:public), Regionen wie Neubrandenburg (suche Neubrandenburg with:public), oder Städte und Gemeinden wie im abgebildeten Beispiel (suche [Stadtname] with:public) — unter den Wave-Usern der ersten Generation scheint ein großes Bedürfnis zu bestehen, sich selber geografisch einzuordnen.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Der offenkundigste Grund ist wohl, dass das Google-Maps-Gadget eines von zwei Gadgets ist, die in der Webclient-Oberfläche von Google Wave derzeit von Haus aus zum Einbinden in Blips angeboten werden. Das Google-Maps-Gadget ermöglicht auch das Stecken von Pins auf einen Kartenausschnitt, so dass sich alle Teilnehmer einer Wave auf einem Kartenausschnitt durch Pin-Stecken verewigen können.

Es darf aber auch über tiefer reichende Gründe spekuliert werden. Das Stecken der Pins in einen noch sehr leeren Kartenausschnitt eines erstaunlich großen Gebiets hat etwas von Claims. Wer in einer mittleren deutschen Großstadt die ersten Pins setzt, darf sich ein wenig fühlen wie die Siedler im Amerika des 18. und 19. Jahrhunderts.

Diese Sorte Waves ist vermutlich eine von jenen, über die man in einigen Jahren, vielleicht auch schon vorher, mitleidig lächeln wird, so wie über zappelnde GIFs auf Homepages. Also: jetzt schnell Pins stecken und später drüber lästern! Es wird sicherlich auch später noch Waves geben, die von lokalem Interesse sind. Doch wenn erst mal klarer geworden sein wird, dass eine Wave von der Dimension her in etwa einem Forums-Thread oder einem Subject in einer Mailingliste entspricht, werden öffentlich-lokale Waves eher Themen haben wie Straßenfest München-Maistraße 2011.

Kettenwellen - Verbreitung von Inhalten bei Wave

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Die erste Ketten-Wave der Welt (suche erste ketten wave der welt with:public

Kettenbriefe und Kettenmails, die nach dem Schneeballsystem arbeiten, sind ein ebenso beliebtes wie umstrittenes Mittel der Wahl, wenn es darum geht, Vertriebskanäle für esoterische Wässerchen zu organisieren oder drohende Weltuntergänge zu prophezeihen. „Prinzipiell ist jedes Medium für die Verteilung von Kettenbriefen geeignet, wenn es einen Absender, einen Empfänger sowie die Möglichkeit des Versands von Nachrichten an mehrere andere Personen gibt.“, heißt es im Wikipedia-Artikel zu diesem Thema. Es funktioniert auch in Medien, in denen Inhalte nicht vom Sender zum Empfänger wandern, sondern gepostet oder geteilt (geshart) werden. Obige Ketten-Wave, die den klassischen Kettenbrief mitsamt Droh-Element simuliert, ist natürlich ironisch gemeint. Aber sie deutetet auf ein mächtiges Potential von Wave hin.

In Twitter entstehen Schneeballeffekte durch Retweeting. In Wave — und das hat die oben gezeigte Welle ganz richtig erkannt — entstehen Schneeballeffekte dadurch, dass Teilnehmer andere Teilnehmer hinzufügen und dazu gegebenenfalls explizit gebeten werden. Inhalte müssen gar nicht mehr kopiert werden, wie noch beim Retweeten. Es werden einfach nur Teilnehmer hinzugefügt. Da dies eine sehr rudimentäre Aktion ist, die jeder Wave-Teilnehmer kennt und schnell beherrscht, können Waves ganz schnell hohe Teilnehmerzahlen erreichen.

Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob das System Waves mit solchen Teilnehmerzahlen überhaupt verkraftet Die Vorstellung, dass eine Wave bei 5- oder 6-stelligen Teilnehmerzahlen hoffnungslos aus dem Ruder gerät, ist dabei zwar naheliegend. Doch das 90-9-1-Gesetz vieler öffentlich zugänglicher Mitmachräume (90% Nur-Leser, 9% Hin-und-wieder-Aktive, 1% Stamm-Aktive) wird wohl in Wave ebenfalls gültig bleiben. Dazu könnten sich soziale Schutz-Effekte gesellen. Waves mit hohen Teilnehmerzahlen könnten „Relevanz-Wächter“ auf den Plan rufen, wie sie derzeit in Wikipedia ins Gerede gekommen sind, und die darüber wachen, welche Beiträge in solchen Waves akzeptiert werden und welche nicht. Waves mit weniger als 100 Blips, aber mehr als 100.000 Teilnehmern sind also durchaus denkbar. Die technischen Tore sind geöffnet. Das soziale Umfeld ist im Augenblick noch wie Eidotter, doch es wird sich entwickeln.

Die Welle der WELT-Kompakt-Redaktion

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Wave der WELT-Kompakt-Redaktion (suche welt kompakt public wave with:public)

Ein Kleinod professioneller Ausprobier-Naivität in Zeiten, da sich im Web Qualitäts-Journalismus und A-Blogger mit allen erdenklichen Mitteln darum streiten, wer die beste Schreibe und die authentischsten News liefert. In Google Wave dagegen freut sich die Redaktion der WELT wie ein C-Blogger über einen Beachtungsartikel im Revolution Magazine.

Ein wenig scheint aber schon herübergeschwappt zu sein vom ruppigen Land jenseits der Wellen. Denn auf die User-Frage „hat irgendjemand eine Idee, warum die alte Public Wave verschwunden ist?“ heißt es lapidar: „Die alte Wave ist von Leuten die lange Weile hatten zerstört worden“. Edit-Wars und Lösch-Vandalismus werden sich wohl schnell verbreiten, vor allem in öffentlichen Waves zu umstrittenen Themen. Zwar sorgt die unerbittliche und immer mitlaufende Record- und Replay-Funktion dafür, dass jeder Vandalismus quasi von einer Videokamera aufgenommen wird, mit Namensschildchen unter allen Personen, die auf dem Video zu sehen sind. Doch erstens gibt es Trolle, die häufig ihre Identität wechseln, und die sich nicht davon beeindrucken lassen, sich mit hässlichen Aktionen eine Identität zu versauen. Und zweitens funktioniert das Aufzeichnungs- und Replay-Prinzip nur so lange, wie es nicht mit irgendwelchen Tricks ausgehebelt wird.

Waves können dazu dienen, mit ausgewählten Teilnehmern ein konkretes Arbeitsziel gemeinsam zu erarbeiten. Sie können aber ebensogut zur offenen Arena werden, in der bestenfalls diskursive Spannung herrscht, schlimmstenfalls Edit-Terror. Noch ist nicht wirklich absehbar, was davon üblicher werden wird. In diesem frühen, unspezifsichen Stadium ist es noch möglich, Akzente für künftige Entwicklungen zu setzen. Wer Ideen für Wave hat, aber nicht weiß, ob sie dort funktionieren, kann jetzt und wohl auch noch in den nächsten Monaten im überschaubaren Rahmen experimentieren. So viel haben die Redakteure der WELT-Kompakt auf jeden Fall verstanden — im Gegensatz zu vielen anderen Medien, die wieder mal noch selig schlafen.

Die Sudoku-Wave und das Online-Gaming der Zukunft

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Sudoku-Wave (suche sudoku with:public lang:de) eingeben

Die Sudoku-Wave ist zunächst ein schönes Beispiel dafür, wie man gemeinsam die Zeit totschlagen kann, wenn man zu viel davon hat. Der Ausgangs-Blip enthält ein eingebettetes Sudoku-Gadget, das nicht nur Sudoku-Aufgaben stellt, sondern auch eine Highscore-Liste der bisherigen Spieler verwaltet und anzeigt. Gemeinsam spielen und drüber reden, das ist grob gesagt das was eine solche Wave ermöglicht.

Einem richtigen Gamer, der auf grafisch ausgefeilte Strategie- oder Action-Spiele steht, ringt so ein Sudoku-Gadget natürlich nur ein müdes Gähnen ab. Doch es ist kein Geheimnis mehr, dass sich auch der Spielemarkt vom Desktop stärker in Richtung Browser entwickelt. Das bedeutet im Klartext: weg von proprietären, spielespezifischen Client-Server-Lösungen im Multiuser-Onlinegame-Bereich, hin zu Lösungen, die auf Standardprotokollen aufsetzen. Das zustandslose HTTP-Protokoll ist allerdings denkbar ungeeignet für Spiele. Ganz anders das Wave-Protokoll. Mit seiner Fähigkeit, praktisch jedes Input-Ereignis (Maus- oder Joystick-bewegung, Tastaturanschlag) zu erfassen und in der Wave aufzuzeichnen, ist es als Basis für ausgereiftere Online-Games wesentlich besser geeignet.

Bis richtig rechenintensive und komplexe Online-Games allerdings in Wave-Gadget-Form flüssig laufen, wird wohl noch etwas Zeit ins Land gehen. Denn genauso, wie einst immer mehr Leistung bei Desktop-Rechnern erforderlich wurde, um den wachsenden Anforderungen hochauflösender Spiele gerecht zu werden, wird nun im Bereich der Server-Cluser und bei den Bandbreiten der Online-Verbindungen aufgerüstet werden müssen. Beides ist bereits im Gange. Virtuelle Server liefern quasi beliebig skalierbare CPU-Power, und die aktuell für Konsumenten verfügbaren Spitzenbandbreiten von 50 MBit/s kommen LAN-internen Bandbreiten immerhin schon etwas näher.

An einem sollte man sich jedenfalls nicht stören: dass es hier nur um olle Gadgets geht, die man irgendwo einbettet. Bei entsprechenden Server- und Bandbreiten-Ressourcen und einer Umschaltmöglichkeit in den Vollbildmodus kann so ein Gadget nämlich schnell zum vollwertigen Computerspiel mutieren. Die umgebende Wave kann dabei für alles mögliche genutzt werden, von Smalltalk über FAQs bis zum Cheat-Sheet-Topf. Auch clan-spezifische Waves, zu denen nur die Clan-Teilnehmer Zugang haben, sind bei entsprechenden Spielen vorstellbar.

Heutige Sudoku-Wellen sind also vielleicht ein sehr kleiner Anfang von etwas, das irgendwann eine weit verbreitete Unterhaltungsform sein wird.

Talk like a pirate - oder: Leben mit Bots

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Der Talk-like-a-Pirate-Bot in der Webkomptenz-Welle (suche webkompetenz with:public)

Im Zusammenhang mit Google Wave ist immer wieder auch darüber geschrieben worden, dass man nicht nur menschliche Teilnehmer in Waves hinzufügen kann, sondern auch selbständig operierende Software-Agenten (Bots), die irgendwelche Arbeiten innerhalb der Wave verrichten. Zunächst blieb aber etwas unklar, wie das genau funktioniert. Mittlerweile tauchen jedoch die ersten einfachen Bots auf. Meist sind es harmlose, lustige Scripts, die irgendwas im Text suchen und ersetzen. So auch der Talk-like-a-Pirate-Bot. Dieser überwacht alle Schreibaktionen innerhalb einer Wave. Er kennt eine Liste von Wörtern. Sobald ein Teilnehmer ein solches Wort in einem Blip eintippt, klinkt sich der Bot in den Blip als Mitbearbeiter ein und ersetzt die Schreibweise des soeben eingetippten Worts anhand der Liste in Piraten-Slang.

Wenn man nicht darauf vorbereitet ist, so wie mein Gesprächspartner und ich im oben gezeigten Ausschnitt aus der Webkompetenz-Welle, dann kann so etwas reichlich verwirrend sein. Doch man ist ja derzeit vor allem deswegen in Google Wave unterwegs, um genau solche Erfahrungen zu machen und dazuzulernen. Wer an einer Wave teilnimmt, kann der Wave andere Teilnehmer hinzufügen. Teilnehmer können aber eben neben Usern auch Bots sein. Bots sind Scripts, die beispielsweise — so wie Talk-like-a-Pirate — sämtliche User-Eingaben überwachen und diese nach Gusto manipulieren können. Sehr praktisch für automatisierte Effekte ist das. So könnte ein Bot etwa bei allen eingetippten Wörtern nachsehen, ob es in Wikipedia dazu einen Eintrag gibt und die Wörter in der Wave automatisch in Links zu den Wikipedia-Artikeln umwandeln. Ein intelligenteres Exemplar könnte vielleicht auch in Blips eingegebene Code-Fragmente (HTML, CSS, PHP, Java z.B.) auf fehlerfreie Syntax hin checken.

Besorgte Zeitgenossen stellen an dieser Stelle jedoch die Sicherheitsfrage. Bots sind solange nützlich, wie sie ihren Dienst einwandfrei und fehlerfrei verrichten. Doch wenn sie fehlerhaft arbeiten, sei es durch Programmierfehler oder auch durch eingeschleusten Schad-Code, also Virenbefall, können sie großen Schaden anrichten. Sie können beispielsweise Inhalte unauffällig so verändern, dass der Teilnehmer, von dem ein veränderter Beitrag stammt, in ein schlechtes Licht gerät. Wohl aus diesem Grund wird in Google Wave auch jede Aktion von teilnehmenden Bots aufgezeichnet. Über die Replay-Funktion ist also im Zweifelsfall ermittelbar, was ein Bot wo verändert hat. Das bleibt solange zuverlässig, wie es keinem Bot gelingt, die Replay-Funktion selber auszuhebeln. Zweifellos gibt es Vorkehrungen, die das verhindern sollen. Aber darauf zumindest müsste Verlass sein. Andernfalls werden öffentliche Waves wohl bald schon der Vergangenheit angehören.

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