Votorola - eine Softwareumgebung für Demokratie

03 Nov 2009 09:13

An das Hören digital gespeicherter Musik haben wir uns längst gewöhnt. Auch über das Ende des Papierzeitalters darf mittlerweile offener geredet werden als noch vor einem Jahrzehnt. Doch wenn es um Politik geht, hört bei den meisten Menschen der Spaß auf. Politik ist das, was von „denen da oben“ gemacht wird. Schimpfen über die da oben ist erlaubt, aber sich Gedanken über Alternativen jenseits von „nächstes mal wähle ich aber die anderen“ zu machen, wird immer noch von breiter Mehrheit als Spinnertum abgetan. Immerhin — die Gedankengespinste häufen sich, und einige versuchen sogar schon, einen Schritt weiter zu gehen.

Die Votorola-Software

Votorola ist eine Software-Umgebung zur Abbildung demokratischer Entscheidungsfindung mit vielen Beteiligten. Sie eignet sich sowohl zur Abstimmung über Wahlkandidaten, als auch für direktdemokratische Gesetzgebungsverfahren oder zur gemeinsamen Entwicklung politischer Strategien.

Die grundsätzliche Funktionsweise besteht darin, dass alle Benutzer direkt miteinander kommunizieren und sich dabei zu immer größeren Wahlbündnissen formieren können, die für einen bestimmten Wahlkandidaten, einen bestimmten Gesetzgebungsvorschlag oder eine bestimmte Verfahrensweise stehen.

Technisch besteht die Software aus einer Webanwendung, die in der Programmiersprache Java geschrieben ist und webserverseitig einen Tomcat-Server sowie Linux als Betriebssystem benötigt. Als Plattform für abstimmungsbegleitende Unterlagen wie Vorschläge, Argumente, Diskussionen usw. kommt MediaWiki zum Einsatz, also die bewährte Software, auf der Wikipedia basiert. Als Datenbanksystem wird das ebenfalls bewährte Produkt PostgreSQL verwendet.. Das System ist nach oben hin frei skalierbar, indem Server, die jeweils eine lokale Ebene (z.B. einen Wahlkreis, eine Gemeinde) managen, in einem Pyramidensystem zusammengeschlossen werden.

Votorola ist OpenSource unter MIT Licence. Derzeit befindet sich die Entwicklung noch im Alpha-Stadium. Im Dezember 2007 wurde das Projekt gestartet. Zum Redaktionszeitpunkt dieses Artikels ist die Version 0.2.2 aktuell. Das Produkt ist jedoch schon einsatzfähig und es gibt Testinstallationen.

Entwickler von Votorola sind der Deutsche Thomas von der Elbe und der Kanadier Michael Allan.

Das Prinzip der kommunikativen Zustimmung

Der Ausdruck „kommunikative Zustimmung“ (engl.: communicative assent) wird von den Votorola-Autoren verwendet, um das Konzept hinter der Software zu erläutern. Der Ausdruck lehnt sich an den des Delegated Voting an. Kommunikative Zustimmung betont jedoch gegenüber dem Delegated Voting den Prozess der Konsensfindung statt nur das Abgeben der eigenen Stimme.

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Das Prinzip der kommunikativen Zustimmung (Quelle)

Das Prinzip der kommunikativen Zustimmung geht davon aus, dass Menschen am ehesten mit solchen Menschen zu einem Konsens kommen, die sie kennen und einschätzen können — Freunde, Bekannte, Verwandte, Kollegen, Menschen aus der Nachbarschaft, Menschen mit den gleichen Problemen oder Online-Freunde, zu denen ein Vertrauensverhältnis besteht. Wird nun ein neues Wahlverfahren gestartet, etwa um über ein bestimmtes Sachthema oder eine zuvor eingebrachte Initiative zu entscheiden, werden die meisten Menschen zunächst auf der untersten, persönlichen Ebene beginnen, mit einigen anderen Menschen einen Konsens zu finden, den sie gemeinsam vertreten können. Der gefundene Konsens wird dokumentiert. Außerdem wird einer der Konsensteilnehmer bestimmt, um den gefundenen Konsens zu vertreten. Das bedeutet: Der Konsens-Vertreter erklärt sich bereit, den gefundenen Konsens in weiteren Auseinandersetzungen mit anderen Konsensvertretern oder Mitbürgern zu vertreten.

Jeder Konsens muss natürlich erst mal gefunden werden. Menschen, die sich auf der untersten Ebene nirgends dazugehörig fühlen, weil sie keine Menschen haben, mit denen sie sich direkt austauschen können oder wollen, oder weil sie mit einem Konsens unter ihren Freunden nicht einverstanden sind, können auch später noch in die Konsensfindung einsteigen und sich direkt mit Konsensvertretern auseinandersetzen. Die obige Grafik verdeutlicht das. Punkte ohne Zahl darin sind einzelne Wähler. Punkte mit Zahlen darin sind ebenfalls einzelne Wähler, die jedoch den Konsens einer Anzahl anderer Wähler vertreten. Zahlen in den Punkten bedeuten die Anzahl von Wählern, die ein solcher Delegierter vertritt. Die kleinen Zahlen neben den Pfeilen sind die Zahlen der Wähler (inklusive ihrer Vertreter).

Das Prinzip besteht also darin, schrittweise durch Kommunikation einen immer breiteren Konsens zu finden. Die immer größere Verklumpung von Zustimmung führt am Ende zu einem oder wenigen Wahl- bzw. Lösungsvorschlägen, deren Stimmenzahl eine nennenswerte Größe erreicht, so dass ein echter Mehrheitsbeschluss vieler Menschen zustande kommt.

Die Verfahrensweise ist universell einsetzbar, egal ob es sich um Sachthemen oder um das Ermitteln von Wahlkandidaten handelt. Das Prinzip kann also sowohl für direkte Demokratie (Bürger entscheiden über anstehende Sachthemen) als auch für repräsentative Demokratie (Bürger wählen Vertreter, die dann für eine Wahlperiode über anstehende Sachthemen entscheiden) genutzt werden.

Das freie Spiel mit der Stimme

Ein Problem der Stimmendelegation besteht darin, dass von dem, was ein paar Freunde auf unterster Ebene zunächst an Konsens gefunden haben, am Ende des Zweigs möglicherweise nicht mehr viel übrig ist. Denn jeder neue „Knoten“ (Punkt mit Zahl darin) auf dem Weg zur Endabstimmung ist ein neuer Konsens, in der Praxis also meist ein weiterer Kompromiss.

Da jeder Konsens dokumentiert wird, ist für die Wähler allerdings jederzeit einsehbar, wofür die Zwischenvertreter stehen. Wenn ein Wähler feststellt, dass ein Konsens, zu dessen Zustandekommen er bislang seine eigene Zustimmung beigetragen hat, nicht mehr seinen eigenen Vorstellungen entspricht, kann er seine Zustimmung formal zurückziehen. Dadurch verliert der Konsens auf höherer Ebene eine Stimme. Der Wähler kann seine Stimme neu einsetzen. Eine Möglichkeit besteht etwa darin, sich direkt in die Konsensfindung auf der höheren Ebene einzumischen. Es steht ihm jedoch ebenso frei, sich einem ganz anderen Konsens-Zweig zuzuwenden, sich komplett enttäuscht abzuwenden, oder den ursprünglichen Konsens erneut auf den Weg zu bringen.

Durch die Möglichkeit, während des gesamten Wahlverfahrens seine Stimme jederzeit zurückziehen und neu einsetzen zu können, können starke dynamische Prozesse in Gang kommen. Delegierte können beispielsweise massenweise Zustimmungen und damit Bedeutung verlieren, wenn sie sich auf „faule Kompromisse“ einlassen und „Verrat an der Sache“ begehen. Jede einzelne Wählerstimme bleibt bis zuletzt im Rennen. Sie kann von ihrem Inhaber immer wieder zurückgezogen und neu vergeben werden. So wird verhindert, dass Vertreter sich ähnlich wie manche heutigen Volksvertreter als reine Machtfiguren positionieren, die den direkten Kontakt zu ihren Wählern irgendwann verlieren.

Da das entstehende Wahlergebnis von der Votorola-Plattform jederzeit zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens für alle einsehbar ist, entstehen jederzeit Anreize, um etwa gegen eine sich abzeichnende, von einem selbst unerwünschte Mehrheit durch verstärktes eigenes Engagement gegenzusteuern. Eine Wahl ist auf der Votorola-Plattform nichts mehr, was an einem Sonntag stattfindet, und dessen Ergebnis man am Abend des Tages präsentiert bekommt. Es ist vielmehr ein Verfahrenstzeitraum zur Konsensbildung, während dessen jeder Stimmberechtigte viele und jederzeit das Entstehen von Konsensbildungen verfolgen kann und neue Möglichkeiten hat, seine Interessen und Wünsche beizutragen.

Wählerkompetenzen

Es steht jedem Wähler frei, seine Stimme überhaupt nicht zu nutzen, oder einmal an einer Stelle des Wahlverfahrens abzugeben und sich dann nicht mehr darum zu kümmern. Seinen Mehrwert entfaltet das Konzept von Votorola jedoch erst dann, wenn Wähler von ihren Möglichkeiten auch tatsächlich Gebrauch machen. Dazu gehören bislang ungewohnte kommunikative, aber auch technische Kompetenzen.

Zu den kommunikativen Kompetenzen gehören:

  • Offen mit anderen über mögliche Lösungen reden
  • Konstruktiv nach Lösungen suchen, statt nur vorgesetzte Lösungen zu kritisieren
  • Sich mit anderen auf eine Lösung einigen, die man gemeinsam vertreten will/kann
  • Das Wahlverfahren über einen längeren Zeitraum zu verfolgen und zu entscheiden, wann und wo man selber eingreifen will.
  • Den Mut haben, sich aus einer Konsensgruppe wieder zu entfernen, wenn man Weiterentwicklung der Konsensbildung nicht mehr akzeptabel findet

Auf technischer Seite wird darüber hinaus erwartet:

  • aktiver Umgang mit MediaWiki (Editieren und gegebenenfalls Anlegen von Seiten, Teilnehmen an Seitendiskussionen, Beherrschen von Suchstrategien)
  • Umgang mit der Benutzeroberfläche der Votorola-eigenen Webanwendung, um Ergebnisse zu verfolgen, die eigene Stimme abzugeben oder zurückzuziehen usw.

Ausblick

Für einen breiten Einsatz ist Votorola im momentanen Entwicklungsstadium sicher noch nicht geeignet. Die anwendungseigene Benutzeroberfläche muss noch deutlich intuitiver und attraktiver werden. MediaWiki ist zwar ein erprobtes Software-Werkzeug, das aber bei aktiver Nutzung (Editieren, Diskutieren) einiges Know How verlangt, dessen Verbreitung noch lange nicht vergleichbar ist etwa mit der Fähigkeit, eine E-Mail zu schreiben und zu versenden.

Software-Optimierung ist jedoch etwas, das von wenigen geleistet werden kann. Viel schwieriger ist der Umdenkungsprozess, der in den Köpfen der Wahlberechtigten stattfinden muss. Vom Stimmvieh zum aktiven Mitgestalter ist ein weiter Weg. Das Teilnehmen an einer offenen Konsensfindung über eine Web-Plattform ist für viele Menschen noch unvorstellbar. Da schimpft man doch lieber weiterhin am Stammtisch über „die da oben“, als sich auf so neumodisches, von irgendwelchen weltfremden Politikwissenschaftlern und Informatikern ersonnenes Zeugs einzulassen. Ja, der Weg ist weit, und die Köpfe sind noch nicht sehr empfänglich.

Während dem Votorola-Team zu wünschen ist, dass es verstärkt wird, um die Plattform in zügigen Schritten weiterzuentwickeln, ist es Aufgabe der Netzgemeinde, mit der Aufklärungsarbeit zu beginnen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch mal auf das Webkompetenz-Partnerprojekt auf demokratie.wikidot.com hinweisen, das sich als partei- und organisationsunabhängiger Informations- und Koordinationsort für Initiativen und Gedanken zu echter, direkter Demokratie versteht.

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