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Der Titel dieses Beitrags könnte missverständlich sein, weil „Halbwissen“ ein so negativ besetzter Begriff ist, dass jeder in — fast möchte man sagen, typischer Halbwissen-Manier — zu wissen meint, worum es nun geht. Doch genau darum wird es in diesem Artikel nicht gehen. Halbwissen, so die hier vertretene These, ist nämlich alles andere als „gefährlich“, wenn es sich um individuelles, aus Interesse angeeignetes Wissen handelt, das auf anderes, ebenfalls individuelles, und ebenfalls aus Interesse angeeignetes Wissen trifft, oder auch auf fundiertes Fachwissen, und sich damit vernetzt.
Dass Halbwissen an und für sich bereits gefährlich sei, ist eigentlich nur das Argument „ständisch“ denkender Vertreter einer gewachsenen und auf sich selber stolzen Expertenriege. So gibt es immer noch viele Mediziner, die der Ansicht sind, Patienten sollten allenfalls etwas über gesunde Ernährung wissen, aber nichts über Krankheiten, ihre Diagnostizierung oder Therapieformen. Viele Anwälte, die noch der Ansicht sind, Klienten sollten besser nichts Genaues über relevante Paragraphen, argumentative Strategien oder Erfolgsaussischten wissen. Journalisten, die von Qualitätsjournalismus reden, um ein griffiges Wort für Abgrenzungsreflexe zur Hand zu haben. Und so manchen Web-Guru, der Wert darauf legt, dass das Erstellen einer Webseite eine unendlich komplexe Angelegenheit ist, an der sich auf keinen Fall fröhliche Laien oder gar nervöse Scriptkiddies versuchen sollten. Herrschaftswissen also. Seine Vertreter sind zuverlässig daran erkennbar, dass sie Wissen, über das sie zweifellos verfügen, knapp halten wollen, um die eigene Position, den eigenen Status zu sichern.
Die Mittel sind dabei sehr unterschiedlich und subtil. So gehört beispielsweise das offene Demonstrieren von Wissen dazu, wenn es mit dem nötigen Sicherheitsabstand zelebriert wird, also so, dass der Zuschauer seine unüberbrückbare Entfernung dazu einsehen soll. Abgrenzende Sprache weist darauf hin, gespickt mit Fremdwörtern, die im gegebenen Zusammenhang keine fachterminologische Funktion haben. Oder wenn ein „Vorführer“ offenkundigen Laien, Patienten, Klienten, Anfängern gegenüber bewusst kollegialen Fachjargon verwendet, mit dem Unterton „siehst du, ich sag dir doch alles, aber du bist halt zu blöd, um es zu verstehen“.
In einer Welt, die von Herrschaftswissen geprägt ist, gilt der unausgesprochene Grundsatz, dass Unwissenheit besser ist als Halbwissen. Wobei die Neugier des menschlichen Geistes nicht einfach in Einfalt gelassen werden kann. Sie muss abgelenkt werden, durch pfiffige Spiele, spektakuläre Shows, spannende Geschichten, Lotterien, Marken und Idole. Besonders im 20. Jahrhundert, als Wissen für die Masse bereits einfacher verfügbar war, wurden immer mehr Superlative für die geistige Zerstreuung aufgefahren. Gleichzeitig wurde das Wissen domestiziert, harmlos gemacht, von Konsequenzen befreit. Die Gebildeten lernten, „wider beseres Wissen“ zu leben.
Durch das Internet, speziell das Web, erfuhr die einfache Verfügbarkeit von Wissen jedoch einen explosiven, neuerlichen Schub. Kein noch so großes Aufgebot an Zersteuung, kein noch so geschicktes taktisches Kanalisieren von Wissen konnten verhindern, dass sich immer mehr Menschen unkontrolliert und ungefiltert über alles mögliche informierten. Und dabei blieb es nicht. Diese Menschen gaben ihre individuelle Mischung aus Information ungeniert weiter, nicht in der Szenekneipe um die Ecke, sondern öffentlich einsehbar im Web, in Foren, Blogs, Microblogs und Social Networks, auf Augenhöhe mit und im gleichen Wasser Wellen schlagend wie große Magazine mit wichtigen Stimmen.
Das soll nicht heißen, dass Information im Web grundsätzlich zu authentischerem Wissen führt als im Zeitalter der wenigen Massenmedien und der kanalisierten Massenunterhaltung. Der netztypische Informationsüberfluss führt auf seine Weise zu einer Verseichtigung der Inhalte, was letztlich eine ähnliche Wirkung hat wie vorgeformte, geglättete Information: Empfänger konsumieren die geistige Nahrung nur noch, ohne zu reagieren. Insgesamt wächst jedoch jener Teil von direkt aufgenommenem Wissen, der Menschen verändert. Verändert in dem Sinne, dass diese Menschen immer unempfindlicher gegen jegliche Form von Herrschaftswissen werden.
Was sie sich aneignen, ist jedoch kein Wissenskanon, keine Ausbildung. Sie durchlaufen keine demütigen Lehrjahre. Niemand im Netz verbietet ihnen, so aufzutreten, wie sie meinen dass sie können. Die meisten werden auch keine Meister, keine großen Experten. Sie stoßen sich jedoch die Hörner ab und wachsen daran. Es sind viele, die sich Wissen im Netz und durch Vernetzung erarbeiten, und es werden immer mehr. Das ist mit dem Titel Halbwissen auf breiter Front gemeint.
In einer Umgebung vernetzter Individualisten ist Halbwissen keine Gefahr. Es wird durch den Kontext anderer Betrachtungsweisen, die immer nur einen Mausklick entfernt sind, stets relativiert. Durch Feedback und Kommunikation wird es kontrolliert. Solange der Halbwissende sich an die Regeln der vernetzten Welt hält und aktiv daran teilnimmt, ist sein Halbwissen weder dumm noch problematisch, sondern legitimer aktueller Bewusstseinsausdruck.
Wichtig ist allerdings, dass alle Netzteilnehmer die Netzkultur leben. Denn sie werden im Netz sehr oft mit Halbwissen konfrontiert, auch in sensiblen Bereichen, etwa bei medizinischen Empfehlungen. Wer sich im Netz mit den Stimmen der Anderen beschäftigt, sollte stets wissen, dass es immer nur die Anderen sind, und in aller Regel keine ermächtigten Halbgötter. Vernetzung bedeutet Relativierung.
Jetzt mag vielleicht noch der Gedanke im Raum stehen, dass Vernetzung und Relativierung geradezu das Halbwissen fördern und am Ende jegliches tiefere Wissen vernichten. Tatsächlich kann man dieser Gefahr erliegen, wenn man sich nur noch im Bereich der bloßen Vernetzung und Verlinkung aufhält, also vor allem in der Statusphäre, und keine Zeit mehr mit der Vertiefung des eigenen Bewusstseins verbringt. Das ist dann allerdings streng genommen kein klassisches Halbwissen, sondern eher seichtes Vielwissen, das gar nicht mit dem Anspruch von Wissen auftritt.
Hallo Stefan,
Danke für diesen klaren Artikel, der für mich einen weiteren Beitrag zur "Aufklärung" unserer heutigen verwirrten Welt darstellt. Die Machtinhaber dieser Welt merken, dass ihnen ihre Macht durch Wissensverbreitung langsam abhanden kommt und versuchen sie nun vehement zu verteidigen. Das kann dann so aussehen, dass fähige, neugierige und unbequeme Mitarbeiter in Unternehmen von wichtigen Informationen abgeschnitten werden, bis sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als das Unternehmen zu verlassen. Oder therapeutische Klienten werden, wenn sie umfangreiches Wissen über ihre eigene Problematik angesammelt und selbst eine therapeutische Sicht entwickelt haben, barsch auf ihren Platz verwiesen, weil der Therapeut keinen anderen Therapeuten neben sich duldet (ein besseres Beispiel für seine eigene Inkompetenz hätte er übrigens kaum liefern können). Und noch ein Beispiel für ausgeprägtes Herrschaftswissendenken: Wer in diesem Land etwas werden will, muss sein Wissen nachweisen können, sonst zählt es nicht. Alles muss diplomiert, zertifiziert, schriftlich fixiert, benotet und möglichst bestens bewertet sein. Der Lebenslauf muss geradlinig und ohne Lücken sein, wer sich erlaubt hat, etwas ausser der Reihe probiert zu haben oder sich eine Auszeit genommen hat, wird dafür hart bestraft. Die Zettel sind die Eintrittskarten zum Berufsleben, nicht Lebenserfahrung oder im Laufe der Jahre angeeignete Fertigkeiten. Es ist nicht nur traurig für die Betroffenen, sondern auch ausgesprochen dumm von den Entscheidungsträgern, diesen riesigen Wissenspool einfach auszuklammern.
Viele Grüße,
Kirsten
Wie immer volle Zustimmung: Es gibt (im gemeinten Sinne) kein Halbwissen.
Wenn man schon wissenschaftliche Grundsätze anlegen will, also im Sinne eines methodologischen Naturalismus, dann darf zwischen wissenschaftlichem Wissen und politischem allgemeinen Wissen unterschieden werden, nicht aber zwischen Wissen und Halbwissen, jeweils im politischen Sinne.
"Halwissen auf breiter Front" ist übrigens auch bekannt als Schwarmintelligenz.
Zuletzt noch die kleine Anmerkung, dass D-Säcke aller Art mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln um die Meinungsführerschaft kämpfen, oft mit folgenden Argumentationsmustern:
- Halbwissen vs. Wissen (Halbwissen haben die anderen)
- Vorurteile vs. Urteile (Vorurteile haben die anderen)
- unzulässige Meinungsäusserung vs. zulässige (a.k.a. Political Correctness)
Über die Nutur des Wissens ist schon einiges geschrieben worden, man wünscht sich als Webteilnehmer allerdings eine breitere Streuung des Wissens um das Wissen, wer bspw. Wissenschaftsblogs scannt, wird entsetzt sein, dass es auch dort an den Grundlagen oft mangelt. Was kann man da von Otto Normalsurfer verlangen?
Vielen, vielen Dank für diesen Artikel.
Zur Zeit bin ich auf einer -zugegeben für den ein oder anderen etwas penetrant wirkenden- Evangelisierungs-Mission unterwegs.Gerne würde ich als Ergänzung zu Wikipedia eine "Erklärmaschine" etablieren, bei der jeder beliebige Themen beschreiben kann. Dabei können zu einem Thema mehrere Erklärungen gleichzeitig existieren. Die Gemeinschaft stimmt darüber ab, welche Erklärung die beste ist. Im Gegensatz zu Wikipedia gilt es hierbei, sich kurz zu fassen. Sehr kurz! 140 Zeichen ist die Obergrenze. Damit eignet sich die Plattform hervorragend für all diejenigen, die einen schnellen Überblick über ein Theme bekommen wollen.
Eigenbeweihräucherung Ende
Immer wieder werde ich mitunter sehr heftig attackiert. Haupt-Argument dabei: Es verbreitet sich Halbwissen. Und das ist schlecht. Basta!
Nun finde ich diesen Artikel herrlich beruhigend. Bringt er doch das auf den Punkt, was ich bisher nicht einmal ansatzweiße so gut zum Ausdruck gebracht habe. Halbwissen ist je nach Situation gar nicht so negativ behaftet, wie es gemeinhin dargestellt wird. Vielleicht ist es in manchen Situationen sogar besser als wissenschaftliche Abhandlungen, deren einziges Ziel es zu sein scheint, die Kluft zwischen Laie und Experte nur noch größer wirken zu lassen (siehe dazu http://twick.it/blog/2009/08/der-erste-twick-noch-ohne-twick-it/).
Wichtig ist dabei natürlich die von dir angesprochene Bewertung dessen, was man da aufnimmt. Kombiniert man aber Halbwissen mit gesunden Menschenverstand ist das Ergebnis gar nicht mal so schlecht. Und allemal besser als Fachidiotie.
Lange Rede, kurzer Sinn:
Danke für den Artikel. Volle Zustimmung von mir!
Es freut sich
Markus
P.S.: Ach so, wenn einer bei der Erklärmaschine mitmachen will: http://twick.it
Hallo Markus,
genaugenommen gibt es überhaupt kein "volles" Wissen, sondern allenfalls "Wissen auf der Höhe der Zeit". Wissen ist zeitlich gebunden, weil wir zeitlich gebunden sind. Und in unserer Zeit, wo es so viel angesammelte Fakten gibt, gibt es nicht mal vollständiges Wissen — zumindest nicht in einem einzigen Kopf. Es gibt also nur eine Skala zwischen Nichtwissen und Wissen auf Höhe der Zeit, und irgendwo darauf bewegen sich alle. Und es ist völlig normal, dass manche in manchen Bereichen viel wissen, in anderen weniger, andere wieder in vielen Bereichen ein wenig. Es gibt Unterschiede in der Bedeutung, die Menschen ihrem Wissen beimessen, und es gibt altersbedingte Unterschiede. Was wir brauchen, ist einen stressfreieren Umgang mit dem "Götzen" Wissen.
Ich nehme an, du hast mich auf Grund meiner Tweets zu http://twick.it/ ausfindig gemacht. Twick.it ist durchaus ein interessantes Konzept. Erinnert mich ein wenig an Google's define:-Syntax (Beispiel: define:HTML). Manchmal braucht man tatsächlich nicht mehr. Kleiner Tipp: ihr solltet vielleicht so was wie snap.com anbieten — vielleicht etwas dezenter. So könnte man in eigenen Quelltexten z.B. so was notieren wie <dfn onmouseover="http://twick.it/de.js?q=HTML">HTML</dfn> und dabei einen gaaanz soften Mini-Tooltipp mit der Toprate-Definition von twick.it erhalten … ;-)
viele Grüße
Stefan Münz
Hallo Stefan,
den Tooltip gibt es schon. Allerdings nich in einer sehr frühen Testphase. Die Idee hierbei ist aber etwas anders: Warum sollte der Redakteur festlegen, was erklärt wird. Drehen wir den Speiß doch rum und lassen den Leser entscheiden, was er wissen möchte.
Und so geht's:
Auf http://twick.it die Alt-Taste gedrückt halten und einen beliebigen Begriff markieren. Es erscheint ein Tooltip mit Erklärung des markierten Begriffs. Das ganze läßt sich auch als Wordpress-Pluggin auf der eigenen Webseite einbinden. Zur Zeit läuft das Plugin testweiße auf ww.reimix.de und www.conception-blog.com.
Das ganze basiert auf JavaScript und läßt sich theoretisch aus mit drei Zeilen JavaScript in jede beliebige Seite einbetten. Extensions für Typo3, Drupal etc. sind angedacht.
Das Wordpress-Plugin kann noch etwas mehr. Man markiert beim schreiben eines Posts einen zu erklärenden Begriff mit [twickit]foo[/twickit]. Das Plugin schaut nach, ob es eine Erklärung zu dem Begriff gibt und zeigt in diesem Fall den Tooltip an. Gibt es keinen Twick, passiert nichts. Sobald der Begriff beschrieben wird, erscheint auch der Tooltip. Zu sehen unter http://twick.it/blog/api
Wie gesagt: Wir experimentieren noch. Gerade das Markieren mit Alt-Taste ist noch umstritten. Ohne Alt-Taste wird es aber zu nervig, wenn penetrant ein Tooltip gezeigt wird. Was auf Macs passiert ist darüber hinaus noch unbekannt. Beta-Status halt :-)
So, jetzt will ich aber mit dem suptilen Twick.it-Spam aufhören :-)
Gruß
Markus
Hallo Markus,
habe mich einfach mal registriert und ein paar Erklärungen abgegeben. Man kann, wenn man nicht aufpasst, vom Ästchen ins Stöckchen kommen ;-)
Viele Grüße,
Kirsten
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