Kompetenzpartei statt Volkspartei

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Ein früherer Artikel in diesem Blog trägt den Titel Geschichte einer Dreijährigen: Twitter. Ein halbes Jahr nach Twitter, genau am heutigen 10. September 2009, wird die Piratenpartei — zumindest der deutsche Ableger — ebenfalls drei Jahre alt. Vielleicht ist es kein Zufall. dass beide im gleichen Jahr in die Welt kamen. Gelegenheit jedenfalls zu ein paar Reflexionen abseits von 5%-Wahlprognosen und Ist-Tauss-pädophil-Diskussionen.

Zunächst einmal ist es schlichtweg falsch zu behaupten, die Piraten würden nur ein einziges Thema vertreten. Open Access, Datenschutz, Urheberrecht und Bildung sind ja durchaus unterschiedliche Themen. Es mag sein, dass sich die Piratenpartei in zehn Jahren auch für Bundeswehreinsätze und Rentenfinanzierung zuständig halten wird. Dann wird sie aber zu einer sogenannten Volkspartei verkommen sein, was jenseits der Definitionen bei Wikipedia längst so viel wie „Wählerhure“ bedeutet.

Wenn die Piratenpartei ihr Konzept durchhält, wird sie bei der Themenbeschränkung bleiben und sich als Kompetenzpartei in ihren Bereichen etablieren. Dahinter steckt ein ganz anderes Demokratieverständnis als wir es bislang gewohnt sind. Kompetenzparteien sind keine Parteien, die untereinander um Vorherrschaft ringen. Kompetenzparteien sind eher wie Abteilungen einer Firma, die bestimmte Aufgaben selbständig übernehmen und sich dem Gesamtprozess der Firma verpflichtet fühlen. Während Koalition im bisherigen Parteiensystem eigentlich nur der unerwünschte Dauerausnahmezustand ist, ist sie im demokratischen Verständnis der Piratenpartei der erwünschte Normalzustand. Und zwar nicht nur als Große Koalition, sondern als totale Koalition des gesamten Parlaments, als Kooperation aller darin vertretenen Kompetenzparteien.

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Ausschnitt aus einem Wahlplakat der Piratenpartei

Die Piratenpartei versucht letztlich nichts anderes, als Konzepte, die sich etwa in Wikipedia und anderen Orten im Web 2.0 bewährt haben, auf die parlamentarische Demokratie zu übertragen. Schwarmintelligenz für einen Superorganismus. Deshalb hat sie es auch nicht eilig damit, Kanzler- und Präsidentenfiguren auszubrüten. Es stehen Probleme an, die zu lösen viel Arbeit erfordert. Also bildet man Arbeitsgruppen aus kompetenten Leuten, die sich dieser Arbeit annehmen.

Eigentlich also nichts anderes als das, was in der Praxis ohnehin so gemacht wird. Die eigentliche Arbeit der Regierung, also Gesetzgebung, Gesetzanpassungen und Haushaltsverwaltung, wird ohnehin von Arbeitsgruppen, Ausschüssen, Gremien und Anwaltskanzleien (ja, ja) erledigt. Was in die Nachrichten der Massenmedien gelangt, ist ohnehin nur der Theaterdonner von Politikerfiguren, die eigens zum Lärmmachen in den Vordergrund geschoben wurden. Herkömmliche, um Vorherrschaft bemühte Parteien benötigen solche Politiker zum Zweck des Platzhirschgebrülls.

Allerdings wäre es ein Trugschluss zu glauben, man müsse nur den politischen Theaterdonner abschaffen, weil den ohnehin niemand mehr mag, und alle Probleme wären gelöst. Das andere, vielleicht noch größere Problem unserer Demokratie ist die Verfilzung von Politik und Lobbyismus. Das Blog von lobbycontrol.de widmet sich dankenswerterweise seit Jahren dieser Problematik.

Lobbyismus ist der Grund für längst überfällige, aber immer weiter verschleppte Entscheidungen, etwa beim Aufgeben veralteter Formen der Energieerzeugung. Lobbyismus ist der Grund für tausende seltsamer bis haarsträubender Ausnahmegenehmigungen, vom Jagdwesen bis zum Telekommunikationsausbau. Lobbyismus ist die systemische Erkrankung der Demokratie, der Krebs. Man findet ihn rechts, man findet ihn links.

Was an die Stelle von Lobbyismus treten muss, ist Neutralität. Im Netz gibt es eine vergleichbare Neutralität bereits von Beginn an. Dort nennt man sie Netzneutralität. Genau dieser Netzneutralität soll es unter dem Einfluss des Lobbyismus und der kraftlosen Platzhirsch-Parteien ebenfalls an den Kragen gehen. Und dagegen wehrt sich wer? Genau: die Piratenpartei. Die Piraten wissen, was Netzneutralität ist, und sie wissen, dass diese Art von Neutralität die Bedingung für freies Agieren ist. Das übertragen sie auch in die Politik. Neutralität im Regierungsgeschäft einer totalen Koalition ist die Gleichberechtigung der Ansichten und Argumente.

Diese Gleichberechtigung ist aber nicht nur auf das parlamentarische Umfeld beschränkt. Das Parlament, das die Piraten anstreben, ist eigentlich eher ein offen zugängliches und für alle editierbares Wiki. Das Reichstagsgebäude ist allenfalls die organisatorisch notwendige, architektonische Repräsentation dieses Wikis. Eine Art Staats-Wiki für Bürger, das Ziel des Weges, an dessen Anfang man unbeholfene Einrichtungen wie die heutigen Online-Petitionen findet.

Mag sein, dass diese Gedanken etwas zu weit über den Alltagshorizont einer Partei reichen, die sich gerade in den Zwängen von Bundestagswahlkampf und Medieninteresse verstrickt hat. Doch es sind wichtige Grundgedanken, welche die Piratenbewegung letztlich antreiben. Und, was noch viel wichtiger ist, es sind Gedanken, die man verstehen muss, wenn man die Piratenpartei beurteilen will. Es ist eine Partei, die nicht am bisherigen Parteienwettstreit teilnehmen will. Ihr Ziel ist ein Parlament aus Kompetenzparteien, wobei sie selber wohl die Kompetenzpartei für Internet-relevante Themen sein möchte. Mit der wiki-artigen Willensbildung, die innerhalb ihrer selbst praktiziert wird, will sie das gesamte Parlament infizieren. Das Ziel ist eine Staatsreform, keine Machtbeteiligung im bisherigen Platzhirsch-Getue und erst Recht keine Verfilzung in den alten Lobbies.

In diesem Sinne auf ein erfolgreiches, viertes Lebensjahr!

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