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Ein früherer Artikel in diesem Blog trägt den Titel Geschichte einer Dreijährigen: Twitter. Ein halbes Jahr nach Twitter, genau am heutigen 10. September 2009, wird die Piratenpartei — zumindest der deutsche Ableger — ebenfalls drei Jahre alt. Vielleicht ist es kein Zufall. dass beide im gleichen Jahr in die Welt kamen. Gelegenheit jedenfalls zu ein paar Reflexionen abseits von 5%-Wahlprognosen und Ist-Tauss-pädophil-Diskussionen.
Zunächst einmal ist es schlichtweg falsch zu behaupten, die Piraten würden nur ein einziges Thema vertreten. Open Access, Datenschutz, Urheberrecht und Bildung sind ja durchaus unterschiedliche Themen. Es mag sein, dass sich die Piratenpartei in zehn Jahren auch für Bundeswehreinsätze und Rentenfinanzierung zuständig halten wird. Dann wird sie aber zu einer sogenannten Volkspartei verkommen sein, was jenseits der Definitionen bei Wikipedia längst so viel wie „Wählerhure“ bedeutet.
Wenn die Piratenpartei ihr Konzept durchhält, wird sie bei der Themenbeschränkung bleiben und sich als Kompetenzpartei in ihren Bereichen etablieren. Dahinter steckt ein ganz anderes Demokratieverständnis als wir es bislang gewohnt sind. Kompetenzparteien sind keine Parteien, die untereinander um Vorherrschaft ringen. Kompetenzparteien sind eher wie Abteilungen einer Firma, die bestimmte Aufgaben selbständig übernehmen und sich dem Gesamtprozess der Firma verpflichtet fühlen. Während Koalition im bisherigen Parteiensystem eigentlich nur der unerwünschte Dauerausnahmezustand ist, ist sie im demokratischen Verständnis der Piratenpartei der erwünschte Normalzustand. Und zwar nicht nur als Große Koalition, sondern als totale Koalition des gesamten Parlaments, als Kooperation aller darin vertretenen Kompetenzparteien.
Ausschnitt aus einem Wahlplakat der Piratenpartei
Die Piratenpartei versucht letztlich nichts anderes, als Konzepte, die sich etwa in Wikipedia und anderen Orten im Web 2.0 bewährt haben, auf die parlamentarische Demokratie zu übertragen. Schwarmintelligenz für einen Superorganismus. Deshalb hat sie es auch nicht eilig damit, Kanzler- und Präsidentenfiguren auszubrüten. Es stehen Probleme an, die zu lösen viel Arbeit erfordert. Also bildet man Arbeitsgruppen aus kompetenten Leuten, die sich dieser Arbeit annehmen.
Eigentlich also nichts anderes als das, was in der Praxis ohnehin so gemacht wird. Die eigentliche Arbeit der Regierung, also Gesetzgebung, Gesetzanpassungen und Haushaltsverwaltung, wird ohnehin von Arbeitsgruppen, Ausschüssen, Gremien und Anwaltskanzleien (ja, ja) erledigt. Was in die Nachrichten der Massenmedien gelangt, ist ohnehin nur der Theaterdonner von Politikerfiguren, die eigens zum Lärmmachen in den Vordergrund geschoben wurden. Herkömmliche, um Vorherrschaft bemühte Parteien benötigen solche Politiker zum Zweck des Platzhirschgebrülls.
Allerdings wäre es ein Trugschluss zu glauben, man müsse nur den politischen Theaterdonner abschaffen, weil den ohnehin niemand mehr mag, und alle Probleme wären gelöst. Das andere, vielleicht noch größere Problem unserer Demokratie ist die Verfilzung von Politik und Lobbyismus. Das Blog von lobbycontrol.de widmet sich dankenswerterweise seit Jahren dieser Problematik.
Lobbyismus ist der Grund für längst überfällige, aber immer weiter verschleppte Entscheidungen, etwa beim Aufgeben veralteter Formen der Energieerzeugung. Lobbyismus ist der Grund für tausende seltsamer bis haarsträubender Ausnahmegenehmigungen, vom Jagdwesen bis zum Telekommunikationsausbau. Lobbyismus ist die systemische Erkrankung der Demokratie, der Krebs. Man findet ihn rechts, man findet ihn links.
Was an die Stelle von Lobbyismus treten muss, ist Neutralität. Im Netz gibt es eine vergleichbare Neutralität bereits von Beginn an. Dort nennt man sie Netzneutralität. Genau dieser Netzneutralität soll es unter dem Einfluss des Lobbyismus und der kraftlosen Platzhirsch-Parteien ebenfalls an den Kragen gehen. Und dagegen wehrt sich wer? Genau: die Piratenpartei. Die Piraten wissen, was Netzneutralität ist, und sie wissen, dass diese Art von Neutralität die Bedingung für freies Agieren ist. Das übertragen sie auch in die Politik. Neutralität im Regierungsgeschäft einer totalen Koalition ist die Gleichberechtigung der Ansichten und Argumente.
Diese Gleichberechtigung ist aber nicht nur auf das parlamentarische Umfeld beschränkt. Das Parlament, das die Piraten anstreben, ist eigentlich eher ein offen zugängliches und für alle editierbares Wiki. Das Reichstagsgebäude ist allenfalls die organisatorisch notwendige, architektonische Repräsentation dieses Wikis. Eine Art Staats-Wiki für Bürger, das Ziel des Weges, an dessen Anfang man unbeholfene Einrichtungen wie die heutigen Online-Petitionen findet.
Mag sein, dass diese Gedanken etwas zu weit über den Alltagshorizont einer Partei reichen, die sich gerade in den Zwängen von Bundestagswahlkampf und Medieninteresse verstrickt hat. Doch es sind wichtige Grundgedanken, welche die Piratenbewegung letztlich antreiben. Und, was noch viel wichtiger ist, es sind Gedanken, die man verstehen muss, wenn man die Piratenpartei beurteilen will. Es ist eine Partei, die nicht am bisherigen Parteienwettstreit teilnehmen will. Ihr Ziel ist ein Parlament aus Kompetenzparteien, wobei sie selber wohl die Kompetenzpartei für Internet-relevante Themen sein möchte. Mit der wiki-artigen Willensbildung, die innerhalb ihrer selbst praktiziert wird, will sie das gesamte Parlament infizieren. Das Ziel ist eine Staatsreform, keine Machtbeteiligung im bisherigen Platzhirsch-Getue und erst Recht keine Verfilzung in den alten Lobbies.
In diesem Sinne auf ein erfolgreiches, viertes Lebensjahr!
Gewiss gehen diese Ideen noch weit über den Horizont all derer, die sich nichts anderes vorstellen können als das Parteiensystem, wie wir es kennen. Da sich gerade wieder mal abzeichnet, dass es die Lager-Koalitionen alten Schlags so kaum mehr geben wird, befassen sich aber vielleicht in Zukunft mehr Menschen mit Alternativen.
Das Staatsbürger-Wiki hab ich mir auch schon gewünscht: es könnte Mechanismen geben, wie wir sie von der Software kennen: erst müssen X Infos gelesen werden, bevor man zu einem bestimmten Thema mitbestimmen darf (man könnte auch noch Tests einbinden, die das abfragen).
Das "totale Parlament" kann ich mir aber noch nicht vorstellen: schließlich gibts auch in den einzelnen Themenfeldern die unterschiedlichsten Meinungen und Regelungsabsichten. Traditionell verteilen die sich dann in verschiedene Parteien, mehr rechts, mehr links etc. Themen-Parteien entstehen m.E., wenn alle Alt-Parteien ein Thema vernachlässigen bzw. es als eines unter vielen eben nicht mit der Vehemenz vortragen können, die es braucht. Da wirkt eine neue Partei dann mehr als "Aufwecker" und kann bei Zulauf weit mehr Druck machen.
Das mit dem Lobbyismus: ja, das ist schlimm - allerdings sagt mir meine Lebenserfahrung, dass man das nicht eben mal so wegbekommt. Es ist ja, genau besehen, tatsächlich ein "politisches Agieren", das sich eben nicht auf das Kreuzchen alle 4 Jahre beschränkt, sondern mittels stetem Austausch und Überzeugungsmethoden unterschiedlicher Art am Gestalten mitwirkt. Als "Krebs der Demokratie" würde ich den Lobbyismus daher nicht bezeichnen.
Ich bin da so milde, weil es halt nichts anderes ist als das druckvolle Vertreten eigener Partikularinteressen - machen das große Firmen, Konzerne und Institutionen, nennen wir es Lobbyismus. Machen es einfache Bürger, die sich zusammen tun, heißt es schon mal Betroffenenvertretung, Bürgerbeteiligung, Kampf um die Bürgerrechte etc. Inhaltlich handelt es sich dann oft genug auch um nichts anderes als Partikularinteressen: man will die Asylbewerberunterkunft oder die Moschee nicht um die Ecke haben, die Autbahn nicht quer durch den eigenen Garten, die neuen Bürotürme nicht da, wo man eben noch in der Strandbar sonnen konnte - und gespart soll immer bei anderen werden, klar! Oft genug setzen sich auch solche Interessen "von unten" mit unterschiedlichsten Druckmitteln durch.
Für mich ist DAS der lebendige politische Prozess in seiner informellen Form. Damit die mächtigeren Interessen nicht (wie jetzt) viel zu viel bestimmen, muss man Transparenz schaffen und Regelungen einführen, die das "Mauscheln" und allzu schlichte Formen der persönlichen Bereicherung verhindern. Ganz wegkriegen wird mans nicht, solange Menschen bestechlich sind.
Komisch, erst als ich die Seite hier noch mal aufrief, habe ich Deinen Kommentar richtig gelesen, sonst wäre ich schon vorher dankbar begeistert gewesen. Du brichst das ganze wieder etwas herunter und ich denke da ähnlich…. in meiner Begeisterung fürs Konzept wie in meiner Einschätzung der parlamentarischen Machbarkeit.
Auch finde ich die Auswüchse des Lobbyismus ebenfalls schlimm, denke aber anderseits, daß die Grundidee eine sehr wichtige und richtige ist. Nämlich die "jetzt gehe ich mal nach Berlin und sage dem Herren Abgeordneten mal, wie es hier vor Ort wirklich aussieht und wie seine angekündigte Entscheidung sich hier auswirkt" - ich sollte eben nur die Aktentasche mit den Geschenken zuhause lassen (müssen).
Was ich aber nicht denke: die Nischen -Lobby -Kompetenzparteien wie die Piraten zum Beispiel haben nicht nur deswegen eine Chance, weil ein Thema von den bisherigen Parteien ausgelassen wurde. Ich denke, die bisherigen Parteien sind in ihrer Form als Gesinnungspaketparteien ein aussterbendes Muster. Die Gesinnung der Leute ist immer mehr fragmentiert. Wir stehen nicht mehr in einem Lager, wir sind alles Mosaikbilder unterschiedlicher themenbezogener Meinungen. Nicht rechts, nicht links, sondern leicht schwankend lieber geradeaus. Und wünschten uns nun ein ebenso zusammengestecktes Entscheidungsgremium, bisher Parlament genannt. Da hätten die alten Parteien keinen Platz mehr.
Ich wollte auch schon mal die "Expertokratie" (nur Experten dürfen wählen) oder das "IQ-Wahlrecht" (Stimmgewicht pro Person = (IQ/100)² ) einführen.
Da jedoch die Expertokratie ggf. den Bock zum Gärtner machen würde (Gentechniker entscheiden über Gentechnik etc.) und beim IQ-Wahlrecht wahnsinnige Terroristen ggf. mehr Stimmgewicht hätten als ich habe ich diese tollen Einfälle wieder verworfen.
Genau in diese Richtung (dass die Stimmen der Gutinformierten doch um-Gottes-Willen und verdammt-noch-mal stärker zählen müssen als die eines planlosen, besoffenen Nazis, der eigentlich gar nicht zur Wahl gehen wollte und nur zufällig am Wahllokal vorbeikommt o.ä.) scheinen auch Deine Vorschläge bzgl. der Informationspflicht vor dem Mitentscheiden zu gehen.
Aber diese (gutgemeinten) Ideen haben mehrere Nachteile:
1. Es ist wahrscheinlich verfassungswidrig, die Wahlberechtigung von einer Informationspflicht abhängig zu machen; was soll z.B. mit Analphabeten oder Minderintelligenten gemacht werden? Wird denen das Wahlrecht wegen Dummheit aberkannt?
2. Bei der Einführung von Tests könnten die Testkriterien so konstruiert werden, dass Andersdenkende automatisch von der Wahl ausgeschlossen werden; wer z.B. nicht "Die Atomkraft ist sicher und günstig und umweltfreundlich" ankreuzt, der würde von der Wahl ausgeschlossen. Chaos, Gerichtsverfahren etc. wären die Folge.
Von daher werden wir uns wohl damit abfinden müssen, dass in der Demokratie jeder genau eine Stimme hat. Auch Vollidioten. Und das man diese Stimme genau einer Partei geben kann.
Einzige sinnvolle Ergänzung: Ggf. bundesweite Volksentscheide.
Bio
wir reden ja hier nicht über die nächste Zukunft!
Zudem meinte ich keinen allgemeinen Intelligenztest oder so etwas, sondern eine Info über das Thema, über das zu entscheiden wäre. Wer also z.B. über Gesetz X abstimmen möchte, bekäme ein paar Seiten mit gut aufbereitetem Für und Wider, die zunächst gelesen werden müssten - und ob man sie gelesen hat, könnte getestet werden. Selbstverständlich sollte es auch eine Variante in "Leichterer Sprache" und eine in "Leichter Sprache" geben - und wer nicht lesen kann, bekommt alles vorgelesen, ist doch klar! :-))
Genau das versuche ich ständig allen möglichen Leuten zu erklären. Mit dem Artikel geht es wieder etwas besser.
Wie ich in dieser arg zerklüfteten Bloglandschaft an anderer Stelle schon einmal skizzierte, sehe ich uns vom Endergebnis noch sehr weit weg, und zwar um Generationen. Es ist ja auch nicht so, daß zwei kompetente Leute zum selben Ergebnis immer kommen, man darf wohl sagen: oft ziemlich selten. Man kann sich ein System vorstellen, bei dem sich Parteien.Personen_Gruppen zur Wahl in Themenresourts anmelden können, und für diesen Bereich darf dann nur eine für x Jahre gewählt werden. Aber ob jetzt jeder 30 Stimmen in der Wahlurne abgeben mag? Und wie sieht dann bloß die Themenvertreteraufklärungszeit aus? (heute noch Wahlkampf genannt)
Ein solch harmonischen Schwarm (denn er muß wenigstens so harmonisch sein, daß er etwas entscheiden kann) ist in näherer Zukunft kaum vorstellbar. Was bekommen wir also in den nächsten Wahlperioden immer wieder? Immer größere Koalitionen. Wir reden ja jetzt schon lässig von drei Parteien Koalitionen, bald werden wir wohl 8 Parteienkoalitionen erleben, wenn jede Interessensgruppe ihr Kompetenzteam bildet. Das wird erst einmal (!) nicht wirklich fluffig funktionieren.
Das einfache normalsterbliche Volk mit auch ihren "Alltagshorizont" (schon wurde wieder ein augenbrauenhochziehendes Abgrenzungswort lässig eingeführt) wird da wohl erst mal weniger Verständnis aufbringen. Die Folge ist: weitere Schockstarre vor der Wahlurne. Und: der Wunsch, nach einem starken Mann. den mag zwar keiner, aber der wirds, so sehen viele es dann als letzten Rettungsanker, dann endlich richten im sich bis zum Stillstand zerschfleischenden Koalitionsparlament.
Da kann die hiesige Netzgemeinde noch so klug sein, sie müssen vielleicht verstehen, daß eben nicht alle einen solch hohen Horizont in ihrem Alltag haben. Man müßte dafür auch nur nach Italien sehen, die sind schon beim "starken Mann" den eigentlich keiner will. Oder in unsere Geschichtsbücher. Oder es eben jetzt schon beobachten und hochrechnen, wie schnell die Gesinnungsparteienlandschaft sich auflöst und Randgesinnungsgruppen, die wir auch nicht wollen, dadurch relativ erstarken während an den normalsterblichen Stammtischen die Leute sagen: "wenn man was geschähe, egal was."
Es ist nett für etwas zu kämpfen was man sich klug wünschend als wirklich gute Idee vorstellt. Es wird auch so kommen können. Bis dahin müssen aber viele Leute tagtäglich unterm Alltagshorizont akute Probleme angehen. Und da niemand das System einfach abschaffen kann und ein wikisystem installieren kann, wird es Generationen dauern. Wenn es überhaupt klappt, denn ich denke: der Mensch steht dem in der masse im Wege. Sagt mir mein Alltagshorizont. Bis dahin arbeiten die sich in den Bundestag wählen lassenden Kompetenzparteien an der Pflasterung des Weges, über die der starke Mann (oder die starke Frau) zu uns kommen wird.
Ich glaube nicht, dass besonders viele Bürger es lange durchhalten würden, sich mit den Detailfragen aller möglicher Politikfelder zu beschäftigen.
Und diejenigen, die es durchhalten würden, weil sie den Willen oder die Mittel dazu haben, beeinflussen die Politik bereits heute in Form des von Dir so geschmähten "Lobbyismus", zu dem ich auch Bürgerinitiativen etc. zählen würde.
Es würde sich also gar nicht besonders viel ändern.
Im Parlament werden "Sparten-Parteien" sowieso wenig Chancen haben, denn wenn die Position einer Partei nur auf wenigen Politikfeldern feststeht, werden die Menschen deren Abgeordnete nicht trotzdem ermächtigen wollen, auch in allen anderen Fragen nach belieben mit-abzustimmen. Sie werden stattdessen wissen wollen, wie die Partei auf den anderen Politikfeldern abzustimmen gedenkt.
Nicht zuletzt haben Parteien IMHO eine wichtige Funktion als Aggregator politischer Ideen und als Vorbereiter politischer Entscheidungen.
Auch wenn das Parlament eigentlich der Platz wäre, alle Dinge zu besprechen, ist es vielleicht doch nicht schlecht, dass die meisten Argumente etc. schon vorher in den Parteien bereits einmal ausgetauscht sind - auch wenn dadurch die Fronten im Parlament oft verhärtet sind. Doch möglicherweise sind sie das nicht ohne Grund, da die verschiedenen Parteien eben die verschiedenen Weltsichten verschiedener Menschen "aggregieren", so dass Partei A halt vornehmlich für Weltsicht A steht und Partei B für Weltsicht B.
Auf jeden Fall wäre es ein demokratischer Gewinn, wenn gewisse Parteien wie die SPD den Fraktionszwang aufheben würden, damit ihre Abgeordneten - wie im Grundgesetz vorgesehen - nach ihrem Gewissen abstimmen können, ohne einen Rausschmiss zu riskieren. Bei der FDP gibt es übrigens keinen Fraktionszwang.
Ich glaube, es gibt für "Kompetenzparteien" keinen Platz im Parlament. Bei der Masse der Politikfelder, die man identifizieren könnte (Anleitung: Beliebiges Substantiv nehmen, dann "-politik" anhängen, z.B. Leuchtstoffröhren-Politik oder Kindernahrungs-Politik), ist für Kompetenzparteien für jedes Feld kein Platz, es sei denn, man möchte ein Parlament mit hunderten Parteien und italienische bzw. Weimarer Verhältnisse.
Und wenn die Parteien dann - wie gesagt - nicht nur auf ihrem Kompetenz-Feld abstimmen dürften, sondern auch in allen anderen Fragen, dann werden die Leute - wie gesagt - auch für die anderen Politikfelder wissen wollen, wofür die Partei steht; und dann ist die Partei keine Kompetenz-Partei mehr, sondern eine ganz normale Partei wie jede andere auch.
Wenn wir natürlich Wahlen für jedes Politik-Feld einzeln durchführen wollten, wäre die Demokratie erst recht ruiniert; denn dann gäbe es nicht nur hunderte Wahlen, sondern auch jede Menge Streit über die Definition und Abgrenzung der verschiedenen Kompetenz-Felder, für die gewählt werden soll.
Ich betrachte darum die Idee der Kompetenz-Parteien als ad absurdum geführt - tut mir leid, falls das auch aus Deiner Sicht gelungen sein sollte ;-)
Im übrigen glaubt nicht einmal die Piratenpartei selbst anscheinend an die "Kompetenz-Partei"; statt dessen arbeitet man am Ausbau des eigenen Programms auf allen herkömmlichen Politikfeldern, in zahlreichen Arbeitsgruppen:
[http://wiki.piratenpartei.de/Arbeitsgruppe]
Interessanterweise hören sich einige Dinge an wie bei anderen Parteien abgeschrieben. Aber Parteien sind ja im allgemeinen nicht böse, wenn man ihre Ideen übernimmt.
Die meiner Meinung nach einzig mögliche Variante, eine Möglichkeit zu schaffen, dass der Bürger mehr Einfluss nehmen kann, ohne das ganze demokratische System, das sich ja in gewisser Weise doch einigermaßen bewährt hat, zu gefährden bzw. völlig zu zerfasern, wären bundes- und Europa-weite Volksentscheide. Ratet mal, wer dafür ist…:
[http://www.bummel.org/blog/2009/01/60-jahre-grundgesetz-fur-den-bundesweiten-volksentscheid/]
[http://www.fdp-bundespartei.de/webcom/show_article.php/_c-367/_nr-5/i.html]
Also. Sparten-Parteien werden auf Dauer nicht bestehen, es sei denn, sie werden zu Vollprogramm-Parteien. Oder zu Fortschritts-Parteien.
[http://www.sueddeutsche.de/politik/687/487097/text/]
Was die wiki-artige Willensbildung angeht, so frage ich mich, ob es diese Art Willensbildung gibt bzw. was das sein soll. Manche Artikel in Wikis sind doch Gegenstand fortwährender Edit-Wars, die nur durch Administratoren beendet werden können. Und in Parteien braucht man ständig auf allen Ebenen (Kommunal, landesweit, für den Bund) Entscheidungen bzw. Beschluss-Sammlungen, um überhaupt politisch agieren und sich dabei auf den Parteiwillen abstützen zu können. Im Wiki gewinnt - wie im Parlament - die Mehrheit bzw. diejenigen, die mehr Macht haben (im Parlament wäre das auch wieder die Mehrheit, im Wiki ist es die Mehrheit der Admins…).
Es gibt übrigens IMHO keine "Schwarm*intelligenz*". Zwar zeigen Schwärme von Individuen interessantes Verhalten, das oftmals "erfolgreich" ist; dieses lässt sich allerdings berechnen und modellieren und damit nicht nur nutzen, um z.B. die Benutzerströme um die Kaaba besser und sicherer zu lenken, sondern auch, um Fischschwärme total in die irre zu leiten und aufzufressen (Wale machen das. Funktioniert super - seit Millionen Jahren; und Termiten lassen sich ja auch gerne mit Stöckchen aus ihrem Baulocken…).
Daher würde ich hier nicht von Intelligenz sprechen, sondern eher von Instinktverhalten. Und ich würde auch nicht versuchen, diese "Schwarmintelligenz" für politische Zwecke zu nutzen. Obwohl die Fertigkeit, die Massen in manipulierbare Schwärme zu verwandeln, natürlich schon zu beeindruckenden politischen Erfolgen verholfen hat. Allerdings keinen, die ich in nächster Zeit in Europa wiederholt sehen wollen würde…
Um aber zum Thema zurückzukommen: Wiki-artige Willensbildung, Schwarmintelligenz etc. hören sich toll an, sind aber IMHO nur Worthülsen. Nichts als Marketing-Sprech für eine vorgebliche Zaubermethode, die Demokratie ganz dolle zu revolutionieren. Alter Wein in neuen Schläuchen.
Das Internet verbessert bestimmt die Kommunikation und die Möglichkeiten zur Partizipation und Information im Prozess der politischen Willensbildung, aber es ändert nicht die grundlegenden Prinzipien selbst, nach denen Demokratie funktioniert.
Im Endeffekt wird natürlich nur der Lauf der Zeit zeigen, was geschehen sein wird. Warten wir es ab - Gehen wir zu Wahl - Entscheiden wir mit! :-)
Bio
Exakt das werden wir bekommen, denke ich, wenn diese Tendenz weiter geht. Schon jetzt sagen nicht wenige, und ich heimlich auch: "es ist zu befürchten, daß es diese Wahl wieder keinen konkreten Wahlsieger geben wird (obwohl alle es behaupten werden dann, auch die Piraten werden sich zum Wahlsieger ausrufen) und man hofft heimlich, daß es irgendeinen geben wird, selbst wenn es nicht die "eigene Parteifarbe" ist."
Diese Zersplitterung mit dem noch so herenen Gedanken, eines Tages alles geändert zu haben und in den seeligen Schwarmkompetenzhorizont zu segeln die wieder die heutigen Deppen nur nicht erkennen können, führt dazu, daß wir eine neuerliche Machtkonzentration eines Erlösers oder einer Erlöserpartei entgegen zu schippern drohen.
Hallo Chräcker,
Das möchte ich nicht unwidersprochen lassen. Die Weimarer Republik, so sagen viele Historiker, sei tatsächlich an der Vielparteienlandschaft gescheitert, an deren Ende eine sich erhob und einfach alles Andere diktatorisch abschaffte. Doch so einfach wiederholt sich die Geschichte nicht. Denn das Problem der Weimarer Republik war, dass ihre Parteien lauter ideologisch extreme, erlösergedankliche Parteien waren. Zumindest mit den Piraten haben wir es heute jedoch nicht mit einer weiteren Kleinpartei zu tun, die glaubt, wenn man nur sie alleine regieren ließe, würde sich alles zum Besseren wenden. Die Piratenpartei ist vielmehr eine Antiparteienpartei. Sie will eine andere Form von Demokratie. Auf das Konzept von Liquid Democracy habe ich ja bereits verlinkt. Da geht es um das Gegenteil von Erlöserdenken. Es geht um sachlich orientiertes politisches Engagement, das dann aber auch tatsächlich Einfluss darauf hat, was sich ändert. Dem Erlösergedanken hängen vielmehr jene Parteien an, die noch immer glauben, sie allein könnten die anstehenden Probleme lösen, die ohnehin mehrheitlich staatsübergreifend und global sind.
viele Grüße
Stefan Münz
Aber es ändert nichts an der Tatsache, daß die Auflösung der Gesinnungsparteien und das zersplittern des Parlamentes in immer kleinere Interessensparteien dazu führt, daß selbiges regierungstechnisch beim jetzigen System entscheidungsunfähiger wird. Eine drei Parteienkoalition wird kaum besser entscheiden und regieren können, als es die große zweier schon nicht konnte.
Diese Auflösung wird dazu führen können, und ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß sich das einfache Volk nach einer "ist mir egal"-Lösung sehnt, Hauptsache es geschieht was. Die Stunde der starken "Männer" (oder Frauen) die wir so eigentlich nicht haben wollen. Egal in welcher runde ich in letzter Zeit mal spaßeshalber reingerufen habe "langsam ist es mir wurscht, wer gewinnt, haubtsache es geschiet was" haben immer alle selbiges abgenickt.
Und klar hinken Vergleiche irgendwo, aber dieses auffüllen der Lücke die durch Entscheidungslosigkeit durch zerspülitterung der Parteienlandschaft durch eine starke Kraft "von aussen" kann man eben in der Geschichte - und eben auch in Italien sich ansehen.
@bio: ich glaube durchaus, dass man die politische Willensbildung über Wikis demokratisieren könnte - das muss nur eben weiter entwickelt und dann verbindlicher gestaltet werden. Wie ich schon seit dem Blick auf die ersten Foren gemerkt habe, präfiguriert Software das soziale Verhalten, indem sie die Möglichkeiten vorgibt. Hinzu kommen die Tätigkeiten von Moderatoren, sowie das "allgemeine Gesetz" der jeweiligen Nettikette.
Diese drei Ebenen sind dem Vorhaben entsprechend zu gestalten - hinzu kommen könnten Verfahren, die der Abstimmungsberechtigung in einem Thema das Lesen und Verstehen von Info-Seiten vorgelagert wird (ist nicht 100%ig, klar, aber hilfreich).
Weiter käme natürlich nur zur Abstimmung in so einem Wiki, wer sich ausweist - dann sind schon mal die meisten Trolls und Schwätzer weg. Und die Veranstalter (im Modell eine Partei) könnten die Abstimmungsergebnisse nach Mitglieder/Nichtmitglieder sortiert auswerten (sie aber erst nach Ende der Abstimmung anzeigen).
Abgeordnete wären weiterhin ihrem Gewissen verpflichtet (=Grundgesetz), doch wäre ihnen bewusst, wie die Mitglieder und andere stimmen. Und sie könnten damit rechnen, nicht mehr aufgestellt/gewählt zu werden, wenn ihnen die Meinung der Abstimmenden allzu oft egal war.
Das nur mal als ein paar Grundideen… klar müsste es im Übergang auch Offline.Strukturen geben, die ALLEN das Mitstimmen ermöglichen.
Hallo Bio,
Bleiben wir mal bei der Wikipedia als Vergleich. Es halten auch nicht besonders viele Leute lange durch, sich mit allen möglichen Themen dieser Welt zu beschäftigen und Artikel dazu zu schreiben. Es gibt aber viele ausdauernde Wikipedianer. Jeder davon hat sich seine Nische, sein Interessensgebiet.
Aus heutiger Sicht gedacht ist das sicherlich richtig, und genau das passiert ja auch derzeit (was letztlich auch der Anlass zu meinem Blogbeitrag war). Die Frage ist für mich aber nicht, was heute ist, sondern was Piraten im Grunde ändern und erreichen wollen (nicht in den nächsten vier Wochen). Dieses Ziel muss am Ende eigentlich auf eine Verfassungsänderung erfordern, da das gesamte Wahlrecht völlig reformiert werden müsste. Es ist völlig richtig, dass man mit einer Alle-vier-Jahre-ein-Kreuzerl-Demokratie so was wie ein "Staats-Wiki" nicht realisieren kann. Das, worauf es eigentlich hinausläuft, wird im Englischen mit dem Begriff liquid democracy ausgedrückt.
Die Piraten sind eine sehr heterogene Bewegung. Sie ziehen Leute aus allen möglichen politischen Richtungen an, und das, was sich diejenigen, die zu der Bewegung stoßen, sich davon erhoffen, ist zum Teil recht unterschiedlich. Es gibt sicher auch viele, die einfach nur überzeugt davon sind, zur ersten Generation einer neuen Partei zu gehören, die aber genauso funktioniert wie andere Parteien, mit Ortsgruppen, Ämtern und Ämterchen usw. Mag sein, dass die am Ende überwiegen werden und aus der Partei eine weitere unwählbare Volkspartei machen. Und wenn niemand dagegen anredet, wird es auch so kommen. Also rede ich dagegen an ;-)
Von den etablierten Parteien halte ich eigentlich auch die FDP für diejenige, die sich am unerschrockensten dem beginnenden Digitalzeitalter stellt. Die scheinen da zumindest weniger Berührungsängste zu haben als gewisse, nicht unerhebliche Teile der Grünen. Aber welche Freiheit meinen die wirklich? Die Freiheit der Bürger oder die Freiheit der Unternehmer?
Korrekt. Es gibt Konflikte, und es gibt Mechanismen zu deren Lösung. Das kann im Fall von uneinsichtigen Endlosstreitereien auch mal ein Machtwort sein. Es funktioniert. Warum sollte man also die Idee verwerfen, dass ein solches Modell auf die demokratische Entscheidungsfindung übertragbar sein könnte.
Es mag sein, dass du das seit Jahren kennst. Für mich sind das jedenfalls sehr neuartige Gedanken. Und für die meisten anderen Leute glaube ich auch. Und im Rahmen deiner Wahlkampftätigkeit für die FDP erlaube ich dir selbstverständlich auch, so daher zu reden ;-)
Du wirst aber vermutlich zustimmen, dass sich bei der Demokratie, die heute im Bundestag praktiziert wird, die Gründerväter von Anno 48 im Grabe herumdrehen. Die heutige Demokratie ist bestimmt von Fernsehen und Presse. Es ist noch die Demokratie der 70er, 80er und frühen 90er. Nur, dass sie abgelutscht und müde ist. Und: es gibt da ein neues Medium, das Internet. Frisch, anders, und immer mächtiger werdend. Was liegt näher als anzunehmen, dass die Politik gar nicht anders kann, als sich diesem neuen Star-Medium anzupassen. Es gelingt ihr nur noch nicht, weil sie noch tapsig ist wie ein Kind, das gerade Laufen gelernt hat. Noch fühlt es sich auf allen Vieren wohler. Aber das wird schnell vorbeigehen.
viele Grüße
Stefan Münz
Ich sehe den Artikel eher kritisch.
Auch wenn ich Pirat bin: Die Grünen sind nach wie vor die beste Lösung, wenn einem Umwelt und Nachhaltigkeit am wichtigsten sind. Die Piraten sind wirklich nicht die erste „Kompetenzpartei“, und wird auch Stellung zu anderen Punkten nehmen müssen.
"Kompetenzabteilung" in einer "Firma" ist kein gutes Beispiel. Bei Firmen geht es nicht um die beste, sondern immer um die effektivste Lösung (in Hinblick auf, ja, Geld.). Da ist auch nichts dagegen einzuwenden, aber als positives Beispiel für Politik (oder andere Bereiche, wo es um Qualität und nicht um Effizienz oder Effektivität geht, wie z.B. Bildung) taugt eine Firma ja mal gar nichts.
Es ist auch nicht falsch, dass die Grünen oder die FDP zu allen gesellschaftlichen Themen eine Meinung haben. Die haben Stammwähler, die sich da optimal repräsentiert fühlen, so wie andere Parteien auch. Und die Piratenpartei füllen ein Lücke, die auch wieder Stammwähler bekommen wird.
Ich nenne es mal Kompetenzarroganz, die bei den Piraten immer mal wieder aufflackert.
Wenn wir am Ende nur Kompetenzparteien haben, wird sich nicht soviel ändern: Es wird immer Punkte geben, wo Kompetenzen gegeneinander stehen. Nein, die Piraten leben nicht davon, dass sie kompetenter als andere Parteien sind, sondern weil sie einen eigenen Lebensentwurf haben, der vom bisherigen Parteienspektrum nicht abgedeckt wird.
Wenn wir uns nur darüber definieren, dass wir irre kompetent sind, schaffen wir uns selber ab. Da steckt mehr dahinter, behaupte ich.
Hallo,
Ich habe nicht behauptet, dass die Piratenpartei die erste und einzige Kompetenzpartei ist. Und ich halte es ebenfalls für sehr wahrscheinlich, dass man die Piraten so schnell nicht in Ruhe lassen wird, was Fragen nach Rentensicherung und Afghanistan-Einsatz betrifft. Ob sie sich allerdings was Gutes damit antun, wenn sie diesem Druck nachgeben, bezweifele ich.
Ja, genau, Stammwähler, Dumpfbacken. Die Piraten sind (hoffentlich? wirklich?) auf dem besten Weg, eine Partei wie alle anderen zu werden. Und damit das auch wirklich so wird, müssen wir gegen alles reden, was irgendwie nicht damit übereinstimmt. Deine Prognosen teile ich durchaus, aber nicht als erfreuliche Aussicht, sondern als Befürchtung. Meine Hoffnung ist, dass die Piraten sich anders entwickeln als die Grünen oder gar die FDP. Meine Hoffnung ist, dass sie auch in den Mühlen des politischen Alltags genug Kraft behalten werden, um ihre Visionen von anderen, direkteren und elektronisch möglichen Formen von Mitbestimmung und politischem Engagement verwirklichen zu können.
Das ist tatsächlich eine Gefahr. Die RTFM-Mentalität. Die Arroganz, die man auch von vielen Ärzten kennnt. Ja, aber was das betrifft, bin ich froh, dass sich nun endlich auch die Politik mit diesem Thema auseinandersetzen muss. Ich habs lange genug getan ;-)
Zweiffelos. Und deshalb muss die Möglichkeit verankert (wie passend, dieses Wort ;-) werden, solche Konflikte unter Einbeziehung interessierter Wähler auszutragen.
Als Partei eines Lebensgefühls leben sie genau so lange, wie das Lebensgefühl existiert. Danach werden sie, so wie die anderen existierenden Parteien, Ausdruck vergangener Lebensgefühle. Kompostis. Naja, wem's gefällt …
Mir wäre es jedenfalls lieber, wenn sie kein Ausdruck eines vorübergehenden Lebensgefühls werden, sondern Leute bleiben, die in dem von ihnen beackerten Bereichen so am Ball bleiben, dass man ihnen in diesem Bereich vertraut.
viele Grüße
Stefan Münz
Fast jede Partei hat zu versch. Themen was zu sagen, trotzdem nennt man die nicht alle Volksparteien. Diese kleineren Parteien haben zwar für fast alles eine Meinung, aber sie besitzen gleichzeitig einen Themenschwerpunkt, den sie herausstellen (zb.: Grüne = Umwelt).
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