Die Einseitigkeit des Realtime-Web

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Irgendwann wird man darüber schreiben, wie das user-generated Web 2.0 sich gegen Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend immer schneller zu drehen begann, bis schließlich selbst die eingefleischten Power-Nerds nicht mehr mithalten konnten und die News-Rezeption und -Reproduktion im Minutentakt entnervt aufgaben. Und der Name, bei dem das Unheil genannt werden wird, lautet „Realtime-Web“.

Dabei, so wird man resümieren, hatte alles so hoffnungsvoll und voller Aufbruchsstimmung begonnen. Und immer wieder wird man Twitter nennen. Twitter, so wird es heißen, habe ab einer gewissen kritischen Masse an Usern und deren Vernetzung vor allem durch das Phänomen der sogenannten Retweets für hochgradig dynamische Prozesse gesorgt. Man wird noch einmal davon schwärmen, wie effizient und leichtfüßig Twitter die politische Meinungsbildung beeinflusst hat. Aber man wird ebensowenig versäumen, auf die Fehlentwicklungen hinzuweisen, die durch das Anbeten des Echtzeitaltars in Gang gekommen sind. Ohne Not, so wird man feststellen, sei eine der größten Errungenschaften von Diensten wie E-Mail mit Füßen getreten worden, nämlich die Möglichkeit, asynchron und nur der eigenen Zeit folgend zu kommunizieren und seine Beiträge im Netz zu leisten. Eine Entwicklung, die sich wie bekannt am Ende durch ein deutlich messbares Gesamtmaß an Unproduktivität gerächt habe.

Halt! Nein, wir wissen nicht wirklich, wie die Zukunft über unsere Netzzeit im Allgemeinen und Twitter im Besonderen urteilen wird. Mir persönlich geht nur seit einigen Tagen der Fahrtwind des Realtime-Web, dem die Szene gerade bedingungslos zu huldigen scheint, ziemlich gegen den Strich.

Vielleicht liegt es ja an der Jahreszeit. Der Sommer brennt sein Feuer ab. Sanft streicheln leichte Brisen die Haut. Die Sonne bestimmt mit flutendem Licht, wie die Dinge der Welt aussehen. Wenn man Orte meidet, an denen sich an solchen Tagen alles tummelt, hat man gute Chancen, in luftiges Denken zu geraten. Denken, das nicht im Dienst irgendeiner tagesaktuellen Entrüstung steht, oder für irgendeine Überzeugung kämpft. Eher ein Schweben im bewussten Raum, mühelos und beliebig kreativ.

Vielleicht liegt es an meinem Alter, nicht mehr weit von der 50 entfernt, in dem die meisten, die überhaupt aktiv im Netz sind, eher außerhalb ihrer Arbeit chatten, und nicht gleichzeitig. Ich weiß aber, dass vielen Jüngeren genau das überhaupt nicht schwer fällt. Schon vor den Zeiten von Twitter hatten sie ständig ICQ- oder IRC-Fenster am Monitor, in denen die Echtzeitkommunikation neben der Hauptarbeit langsam aber beständig dahintröpfelte.

Vielleicht sind es auch Artikel wie der über die radikale Verschlimmbesserung, die das Netz durch das Realtime Web erfährt. Wer in diesem rasanten Fluidum publiziert, muss sich pausenlos mit allem möglichen beschäftigen, Input möglichst schnell in scheinbar originären Output umwandeln, und wie ein Artist die vielen schnell drehenden Teller auf Twitter, Facebook, FriendFeed und Posterous am Kreisen halten. Keine paar Minuten lang, sondern Tag für Tag. Schlafen, Muße, all das wird bei näherem Hinsehen zu Zeit, in der man nicht zu den ersten gehört, die News entdecken, weitergeben und so schlau kommentieren, dass es andere wiederum retweeten. Ist man mal zwei Tage aus privaten oder beruflichen Gründen aus dem Flow herausgerissen, kommt man sich wie ein Penner vor, ein Ausgestoßener aus der Mitte der Informierten. Einer, der den Anschluss an die reale Zeit verloren hat. Fatal.

Dafür entdeckt man dann vielleicht wieder mal jenen anderen Teil des user generated Web. Jenen Teil, in dem tausende von Menschen in stiller Bescheidenheit Wikipedia-Artikel optimieren, Google Earth um individuelle Panoramio-Fotos bereichern, Wege ablaufen, abradeln und abfahren, um Details zu OpenStreetMap beizusteuern, oder die Lokalisierung von OpenSource-Software koordinieren. Man ist fast versucht zu sagen: es sind die uneingebildeten Common People des Web 2.0, im Gegensatz zu hektisch herumwirbelnden Alpha-Tierchen der Statusphäre, effizient statt elektrisiert. Unwillkürlich zieht man Vergleiche zu früheren Zeiten, etwa zu der Zeit, als die Industrialisierung über ältere Formen der Lebensbewältigung hereinbrach. Man denkt vielleicht an die Parabel vom Fischer, der faul in seinem kleinen Fischerboot in der Sonne döste, als ein gut gekleideter Mann ihn aufsuchte und ihm vorschlug, ein besseres Boot zu kaufen. Als der Fischer fragte, warum er das tun solle, antwortete ihm der Mann, damit könne er viel mehr Fische fangen, also auch mehr Fische verkaufen. Und als der Fischer neuerlich fragte, warum er das tun solle, antwortete der Mann, mit dem mehr verdienten Geld könne er noch größere Boote kaufen, noch mehr Fische fangen und noch mehr Geld verdienen. Der Fischer hörte jedoch nicht auf damit, nach dem Warum zu fragen. Schließlich malte der Mann aus, wie der Fischer sich als reicher Mann ein schönes Leben machen und am hellichten Tag in der Sonne dösen könne. Aber das tue er ja bereits, entgegnete der Fischer.

Letztlich sind beide Pole erforderlich. Sowohl syncrhone als auch asynchrone Formen von Kommunikation werden benötigt, im Netz wie anderswo. Richtig ist die Erkenntnis, dass das Netz zu schade ist, um nur aus endgültigen, statischen Daten zu bestehen. Worauf wir jedoch verzichten können, ist der Hype, diese moderne Form der Götzenverehrung, um die Echtzeitkommunikation im Web. Seit über hundert Jahren kann man telefonieren, wenn man Remote-Echtzeit-Kommunikation wünscht. Von dieser Warte aus betrachtet ist es kein Fortschritt, sich stattdessen die Finger in Echtzeit wundzutippen oder gar die Tipperei von Kommunikationspartnern in Echtzeit inklusive aller Vertipper mitverfolgen zu können. Effizient wäre es dagegen, Telefonate bei Zustimmung aller Kommunikationspartner aufzeichnen und als Audio-Stream sofort im Internet oder einem Intranet veröffentlichen zu können. Irgendwann wird man das wohl einsehen. Dann, wenn man darüber schreiben wird, wie das user-generated Web 2.0 sich gegen Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend immer schneller zu drehen begann …

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