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Im Web 2.0 wird gerne so getan, als habe es vorher, also etwa vor 2005, nichts als öde, statische Webseiten gegeben, bereitgestellt von Anbietern fürs mitsprachlose Fußvolk. Daran ist so viel richtig, als der Aspekt der Interaktion zwischen Anbietern und Nutzern in den letzten Jahren besonders stark zugelegt hat. Das moderne Web ist nicht mehr nur ein Informationsmedium, sondern auch und für manche sogar vorwiegend ein Ort der Kommunikation, ein soziales Medium also. Falsch ist jedoch die Ansicht, dass es vor den Zeiten von Web 2.0 praktisch keine Netzkommunikation gegeben habe. Die Kommunikation benutzte nur andere Kanäle, und sie hatte andere Ziele und Ausprägungen. Manches davon wünscht man sich manchmal zurück.
Schon in den frühen 80er Jahren entstand das Usenet. Zunächst war es eine reine Unix-Angelegenheit. Nach Einführung des NNTP-Protokolls Mitte der 80er Jahre wurde es jedoch ein TCP/IP-basierter Service und damit im engeren Sinne Teil des Internet. Im Usenet hat sich über die Jahre eine ganz eigene Kommunikationskultur entwickelt, die vor allem durch die starke Dominanz von Akademikern und Universitätsangehörigen geprägt ist. Reflexionen über den richtigen Umgangston in kontroversen Diskussionen gehörten von Beginn an mit dazu. Als Ausdruck davon entstand die sogenannte Netiquette.
Eine weitere klassische Kommunikationsform, die ebenso wie das Usenet immer noch eifrig verwendet wird, ist die der Mailinglisten. Diese Kommunikationsform ist die klassische Austauschform für alles, was mit internet-interner technischer Weiterentwicklung zu tun hat. Egal ob beim W3-Konsortium, bei der Internet Engineering Task Force (IETF) oder auf microformats.org: Mailinglisten sind dort das Mittel der Wahl für die Kommunikation. Der Grund ist, dass E-Mail als der rudimentärste Internet-Service gilt und niemand, der einen Internetanschluss hat, nicht zumindest eine E-Mail-Adresse hat. Besonders im angelsächsischen Raum ist im Rahmen technischer Mailinglisten eine hohe Diskussionskultur entstanden, deren ungeschriebenes Gesetz darin besteht, dass es niemals ums Rechthaben geht, sondern stets um die beste Lösung für ein Problem oder die Verbesserung einer Lösung.
Online-Kommunikation war zumindest in der ersten Hälfte der 90er Jahre noch nicht gleichzusetzen mit Internet-Kommunikation. Zu den Vertretern klassischer Online-Kommunikation gehört unbedingt auch das Forensystem des Online-Dienstes CompuServe. In den legendären Foren von CompuServe wurden amerikanisch geprägte Toleranz und Freundlichkeit gepflegt, und nirgendwo sonst verkehrten Online-Anfänger und Profis so locker und ohne Vorurteile miteinander. Erst als der ganz große Online-Boom einsetzte, der CompuServe einen kurzen Höhenflug bescherte, am Ende aber das Genick brach, verfiel auch langsam die Forenkultur.
Die erste Kommunikationsform im Web waren Diskussionsforen, die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre allerortens eröffnet wurden. Es gab auch schon früh Anbieter von hosted-Lösungen, da viele Homepage-Besitzer nicht über die nötigen technischen Server-Voraussetzungen verfügten. Ein verbindendes Konzept fehlte diesen Foren. Sie waren site-zentriert und wurden in vielen Fällen ausschließlich zur User-Bindung benutzt. Einige Einzelforen und Forensysteme schafften es, ein individuelles Profil zu entwickeln, das bestimmte Besucherschichten anzog.
Social Networks unterscheiden sich von den bisher genannten Formen der Online-Kommunikation bei näherem Hinsehen dadurch, dass es in ihnen nicht mehr nur um Kommunikation im engeren Sinn der direkten Rede und Gegenrede geht. Social Networks bilden auch das nonverbale Umfeld von Kommunikation ab. Besonders gut ist das in Facebook sichtbar. Zahlreiche Foren, Fan-Seiten und Applikationen dort haben keinen anderen Zweck, als Statusmeldungen dieser Art zu erzeugen: „X ist ein Fan von Y. <link>Ein Fan von Y werden</link>.“ Dadurch redet man nicht mehr darüber, was man gut und schlecht findet — man dokumentiert es durch Beitritts-Handlungen. Warum und wieso man irgendwo beitritt, bleibt unterm Tisch. Hauptsache, man ist wer. Die anderen machen es ja auch so. Wie im echten Leben also. Handeln und bekennen, um Eindruck zu machen, und ja nicht diskutieren. „So bin ich“, wie in der Werbung.
Anlass dieser Gedanken ist der Artikel Gemeinsam einsam, der gestern im Online-Angebot der ZEIT erschienen ist. Social Networks sind eine konsequente Erscheinung auf dem Weg dahin, die perfekte mediale Darstellung des eigenen Lebens zu inszenieren. Die nächsten Stufen auf diesem Weg sind noch mehr Echtzeit, und noch mehr Realität in Form von Videos. Aber auch wenn der Produktionsstress dieser Beiträge steigt, bleibt immer noch ein Manipulationsraum übrig, der es erlaubt zu filtern, um nur die eigene Schokoladenseite zu sharen.
Das ist alles sehr spannend. Aber es ist bei der Betrachtung hoffentlich auch klar geworden, warum die Lektüre eines klassischen Mailinglisten-Postings hin und wieder eine sehr entspannende Sache sein kann.
Ja, die gute alte Zeit. Meiner Meinung nach fehlt IRC, Vater aller Chats, allerdings noch in deiner Aufzählung.
Hallo Ralph,
stimmt, IRC ist ebenfalls ein wichtiger Kommunikationsklassiker. Daran hatte ich gar nicht gedacht, weil ich auf diskussions- und posting-orientierte Formen fixiert war. Aber nachdem bei Plattformen wie Facebook auch Chat dazugehört, gehört das ebenfalls zum Vergleich. Fairerweise muss man dann aber auch das Beziehungsmonster ICQ nennen. Auch wenn es proprietär ist, so ist es doch eine Institution mit Millionenvolk.
viele Grüße
Stefan Münz
Wie schön, dass das mal wieder jemand sagt und davon erzählt!
Dann will ich doch mal ein paar Webseiten aus der Urzeit (ca. 1997/98) zeigen, auf denen - natürlich "händisch" verwebbt - Netzkommunikation stattfand, bzw. die von ihr handeln. Ich experimentierte damals mit diversen Magazin-Formen (wir nannten das damals "Cyberzine" oder "Webzine") und entfernte mich mehr und mehr vom klassischen Vorbild, der Startseite mit angerissenen Artikeln, deren "weiter-lesen"-Link in bestimmte, vorgegebene Rubriken führte.
Nicht nur die Rubriken, auch die Tradition, immer erst einen "Artikel" fertig zu schreiben, bevor ich per Mail eingesendete Leserkommentare daneben oder darunter setzte, stellte ich in Frage. Schrieb mich einfach non-stop (allso ellenlang immer weiter…) in mein GLÜCK hinein:
Missing Link: Glück und mehr
http://www.claudia-klinger.de/archiv/glueck/
Die Seiten sind in meinem Archiv und bisher nirgends verlinkt - es ist mir einer Freude, diesen Link HIER zu setzen. :-)
Es gab in diesen Jahren übrigens noch keine ERWARTUNGEN der Surfer - jede Website war ein Abenteuer und hatte ganz eigene Navigationsstrukturen! Und: jeder machte ALLES, beginnend auf dem leeren, potenziell unendlichen Raum, den ein Browser zeigt: die Texte, die Webseiten/den Code, Navigationsstruktur, Grafiken, Bilder..
Was es mit den Mailinglisten auf sich hatte, habe ich mal für eine Bildungseinrichtung auf einer Website zusammen gefasst - jede Menge Netzgeschichte inklusive:
http://www.claudia-klinger.de/mailinglisten/
(Teil 1 kann man überspringen, den hab ich nur dem Umfeld zuliebe geschriebe..)
Als drittes und letztes Beispiel jener wilden Anfangsjahre sei noch gezeigt, was wir damals statt Barcamp hatten - nämlich z.B. das hier:
http://claudia-klinger.de/archiv/symposium/
Das "Kulturprozent" des schweizerischen Genossenschaftskonzerns MIGROS hatte allerlei aktive Netizens in ein wunderschönes Ambiente eingeladen. Wir wurden köstlich bewirtet (!) und durften 2 Tage lang unsere Projekte vorstellen und über das Netz, das Netz und nochmals das Netz und seine waaaaahhhhhnnnnnnnsinnigen Möglichkeiten quatschen…
Nach solch' inspirierenden Treffen ging sofort das webben los.. :-)
Wow, waren das noch Zeiten!
Hallo Claudia,
aus deinem Posting höre ich einen deutlichen Schrei heraus: "hört endlich auf, euch selber als den Anfang von Vernetzung zu propagieren! Guckt bitte eiin wenig rückwärts, um zu begreifen, dass euer Networking einfach nur die logische Konsequenz von Ideen sind, die es schon lange vorher gegeben hat".
Das kann ich durchaus nachvollziehen. So sehr ich die Kanäle von heute auch schätze: diese sind nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern sind einfach Antworten auf alte, offen gebliebene Lücken.
Vermutlich gibt es einige, die vor Jahren ihr Herzblut in seinerzeit vorhandene Netzkommunikationsformen gesteckt haben, und die nun etwas pikiert sind darüber, von den neuen Networks einfach überrollt zu werden. Ändern wird das nichts an den neuen Realitäten. Aber es kann dazu beitragen, dass mehr Repräsentanten der gegenwärtigen Networking-Ära vielleicht auch mal etwas historisches Bewusstsein entwickeln.
Danke für den exklusiven Link! Das ist wirklich was Besonderes! Aber auch für die beiden anderen Links. Das "Symposium" ist wirklich eine 10 Jahre alte Vorwegnahme der Barcamps!
Es wird die gegenwärtige Networking-Generation allerdings nicht unbedingt positiv beeinflussen, wenn irgendwelche "alten Leute" darüber schwadronieren, wie viel von den neuen Realitäten angeblich auf altbekannten Konzepten basieren. Deine Links sind in dieser Hinsicht sehr gut, um Erklärungsnotstand zu vermeiden ;-)
viele Grüße
Stefan Münz
Na, es ist halt das Vorrecht der Jugend, keine Vergangenheit vor dem eigenen Erscheinen wahrnehmen zu wollen! :-) Würde ich dagegen halten wollen, könnte ich ja umfangreich Geschichtsschreibung betreiben - mach ich aber nicht, bzw. nur selten. Aber es stimmt: zeitweise erschien es mir als Zumutung, z.B. jetzt Blogscripte einzusetzen: Himmel, wozu das? Geht doch auch händisch und das sogar FREIER in der Gestaltung…
2005/2006 hatte ich aber die Faxen dicke und Wordpress wurde für mich nun doch das Basistool für alles, was ich früher als "Homepage bauen" begriffen hatte. Und ich möchte es nicht mehr missen! Die Freiheit der Gestaltung muss man sich bei CMS eben durch Lernen zurück erobern - mancher Frust der "Alten" ist vermutlich auch Unwilligkeit, das zu tun.
Beeindruckend fand ich aber schon, dass all die alten Auseinandersetzungen um Urheberrecht (antik?), Werbung (böse!), Zitatrecht/Haftung für Links, Anonymität, Schmutz und Schund (Nazis!), Zukunft der klassischen Medien/des Buches etc. nahezu inhaltsgleich, jedoch mit verstärkter Power seit der Etablierung von Web2.0 wieder auftreten. Immer mit der Einleitung: heute kann ja einfach JEDER ins Web schreiben... als wär das nicht IMMER SCHON so gewesen! :-)
Die Tendenz des kompletten Abhebens von einer eigenen Website-Basis, wie sie viele mittels Twitter, Facebook etc. vollziehen, ist auch etwas, was ich nicht so ohne weiteres mitmache. Zwar nutze ich diese Plattformen - teils nur zum gucken, teils mit gefühltem Nutzen -, doch mag ich kein Netzleben OHNE eigenes "Home" führen, in dem ich "die GANZE Macht" habe (und nicht von der Entwicklung irgendwelcher Communities und privater Firmen abhängig bin).
Die Zerstreuungseffekt des "Streamens" finde ich ebenfalls dermaßen krass, dass ich damit außerordentlich zurückhaltend bin. Andrerseits ist es toll, wie sich dadurch der Wirkungsgrad einer Nachricht vervielfacht, wenn es denn etwas ist, was den Nerv der Zeit und der Menschen trifft.
Hier noch ein schöner Artikel, der ein Stück der alten Utopien wieder (neu) formuliert: Das "Human Web Manifesto" von digitalpublic.de, das aufzeigt, dass es bei der Vernetzung nicht ums Internet, sondern in bestimmter Hinsicht ums Ganze geht. Lesenswert!
Hallo Claudia,
teilweise kann ich die Verwendung solcher Plattformen wie Facebook oder auch Posterous gut verstehen. Man muss sich dann eben gar nicht mit der technischen Infrastruktur auseinandersetzen, sondern schreibt im Falle von Posterous einfach eine Mail mit dem fertigen Text an den Dienst und schon ist der eigene Content online.
Damit könnte man sogar "Oma Frida" zum "Bloggen" bringen, wenn sie denn gerne schreibt und das Mail-Programm beherrscht :-)
Ich vermisse etwas, oder hab ich es überlesen? Den Hinweis auf die "virtuelle Sozialkommunikation" der vor-Internet-Zeit und eben vor-Compuservezeit, die aber gleich dann in selbige hinein führte: die Mailboxen. Da wurden die Leute schon geschult im Dialog und im virtuellen Umgang mit einander und den Vernetzungsthemen. Wenn ich an das Programm X-Point denke, war es schon nichts anderes wie ein Community-Forum der heutigen Zeit, nur eben offline. Eine Mischung aus Mailprogramm und Forum.
*wehmütig* ausserdem war es rituell geradezu erhebend, erst den Telefonhöhrer aufzuschlagen, damit sich das "was eigentlich?" lockert, dann das Kisssen auf die Hörer-Kopllerkombination, damit die Wellensichtiche nicht zwischenfiepten, nur um am Besetzzeichen zu scheitern.
Wobei einige Mailboxen bereits Internetzugang boten, zumindest E-Mailadressen.
LOL, das waren noch Zeiten mit dem 7.000,-DM-Rechner und dem 1200 (300?) Baud-Modem bzw. Akustikkoppler.
Hallo Chräcker,
Der Hinweis ist durchaus angebracht. Meine Reflexionen reichten einfach nicht bis in die Steinzeit zurück ;-)
Leider kann ich mich ja angesichts der Erwähnung von CompuServe auch nicht damit rausreden, dass ich nur Kommunikationsformen behandeln wollte, die innerhalb des Internet entstanden sind. Nicht mal das Usenet ist ursprünglich innerhalb dessen entstanden, was heute unter Internet verstanden wird. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich selber nie aktiv an Mailboxen teilgenommen habe. Habe es nur ein paar Mal geschafft, mich in die eine oder andere Mailbox einzuwählen und dort etwas herumzustöbern. Hab bei mir aber keinen Funken gezündet …
viele Grüße
Stefan Münz
BTW gabs auch noch.
BTX
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