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„Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein.“ Kaum eine Phrase wurde in letzter Zeit so häufig von alten Männern mit Kugelschreibern und Internetausdruckern gedroschen wie diese. Und keine zeigt so sehr wie diese, wie wenig Ahnung diese Politikergeneration vom Netz hat. Kein Wunder, dass diese eintönige und ignorante Phrase längst eine ganze Sammlung von Karikaturen wie „Der Mischwald darf kein spechtfreier Raum sein“ hervorgebracht hat.
Selbstverständlich ist geltendes deutsches Recht im Internet anwendbar. Es mag manchmal etwas schwieriger anwendbar sein, weil sich das Internet als digitales und flüssiges Medium dem Brief-und-Siegel-Dokumentwesen der klassischen Rechtssprechung entzieht. Aber es ist anwendbar und wird angewendet, etwa bei allen Formen von Internetkriminalität.
Als neuartiges Medium, das von Tag zu Tag mehr Bedeutung im Alltag der Menschen einnimmt, schafft das Internet jedoch auch viele neue Realitäten, für die es in der bisherigen Agrar- und Industrie-Welt keine oder nur ansatzweise Entsprechungen gab. Für eine nicht-ignorante Gesetzgebung bedeutet das: die neuen Realitäten müssen wahrgenommen werden, und die bestehende Gesetzeslage muss einer gründlichen Prüfung unterzogen werden. Was hat weiter uneingeschränkt Geltung, was muss überarbeitet oder ergänzt werden, und: was ist so nicht mehr haltbar und muss gänzlich entfernt oder durch etwas Neues ersetzt werden.
Angesichts der Flut von Gesetzen und Regelungen auf Länder-, Bundes- und europäischer Ebene ist das natürlich ein fast unmögliches Sisyphos-Unternehmen. Ein systematisches Vorgehen wird also einfach am anfallenden Arbeitsaufwand scheitern, selbst wenn ein ganzes Heer netzkompetenter Mitarbeiter zur Verfügung stehen würde.
Eines kann der Gesetzgeber aber in jedem Fall tun: hellhörig und wertoffen an offensichtliche Konflikte zwischen Realitäten, die durch das Netz neu geschaffen wurden, und geltendem Recht heranzugehen. Derzeit ist es jedoch so, dass in solchen Konfliktfällen von Seiten verantwortlicher Politiker reflexartig die neue, durchs Netz geschaffene Realität kriminalisiert wird. Und genau das ist der Punkt, an dem wir netz-affinen Leute sagen: halt, ihr Politiker, bis hierhin und nicht weiter! Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, doch das Internet darf auch kein Raum sein, in dem mit aller Gewalt und Ignoranz Recht angewendet werden soll, das nicht mehr zu diesem Raum passt.
Und deshalb werden wir euch abwählen. Wir wollen politische Vertreter, die neue Realitäten nicht kriminalisieren, sondern Lösungen suchen, um diese mit konfligierenden Rechtsansprüchen aus bisher geltendem Recht zu vereinbaren. Politische Vertreter, die digitale Naturgesetze wie die, dass alles Kopie ist, verstehen und umsetzen können. Und wir werden die neuen Realitäten im Netz nicht aufgeben, nur weil sich unsere Volksvertreter weigern, sich damit auseinanderzusetzen und die gesetzlichen Regelungen anzupassen. Denn "wenn Recht zu Unrecht wird …" — doch genug der Phrasen!
Kleine Ergänzung zum Beitrag: zeitgleich ist bei Telepolis ein Artikel erschienen, der ebenfalls auf die Phrase "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" eingeht und sich auf eine andere, unbedingt lesenswerte Weise damit auseinandersetzt:
viele Grüße
Stefan Münz
Wer Lust hat, darf sich gerne auch über die Überlegungen eines Ulrich Glauß hier ein wenig ärgern:
http://www.welt.de/politik/article4007056/Anonymitaet-im-Internet-entwertet-das-freie-Wort.html
Auf btw09.twoday.net gibt es eine sehr schöne, lange Liste mit Variationen der hier behandelten Phrase, die wir, liebe Politiker, nicht mehr hören werden, ohne euch sogleich als internet-inkompetent einzuschätzen. Da die Seite auf btw09.twoday.net möglicherweise die Bundestagswahl nicht lange überleben wird, erlaube ich mir mal, die Liste hierhin zu kopieren:
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