AVAAZ - global-mediale Kampagnen als politische Lösung?

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avaaz.jpg Während das Vertrauen in die Fähigkeit herkömmlicher Parteien und Regierungen, globale ökologische oder soziale Probleme lösen zu können, weiter sinkt, mobilisiert eine politische Kampagnen-Organisation immer größere Menschenmassen.
Eigentlich veröffentlicht am 18.05.2011

Das hier wird ein Artikel mit vielen Zitaten. Nicht aus Faulheit, sondern weil es der NGO, um die es hier geht, unter anderem gelungen ist, typische Fragen im Vorne-Verteidigungsstil perfekter PR gleich selber zu beantworten. Allerdings sollen auch Gegenstimmen zu Wort kommen. Los geht es mit einem Zitat aus einer E-Mail von AVAAZ-Gründer Ricken Patel, einem heute Mittdreißiger aus Kanada, der die Geschäfte von Avaaz leitet:

Bild von Ricken Patel„Es gibt jetzt mehr als 8.2 Millionen von uns, und pro Woche kommen etwa 100,000 Menschen - righ dazu! In der vergangenen Woche haben sich 650,000 Inder an unserer Kampagne für einen neuen, von der Zivilgesellschaft aufgesetzten Gesetzesentwurf gegen Korruption beteiligt – und wir hatten Erfolg!! Jeden Monat haben wir wichtige Erfolge zu verzeichnen – wir kämpfen gegen politische Korruption in Italien, Medienkorruption in Großbritannien und Kanada, gegen die Zerstörung der Umwelt in Brasilien und vieles mehr. Und in Nahost erhalten mutige Aktivisten, die furchterregenden Sicherheitskräften gegenüberstehen, unschätzbares Equipment und Kommunikationshilfen, bezahlt durch Spenden von beinahe 30,000 von uns. Von den Volksrevolutionen in Nahost bis hin zu nationalen Anti-Korruptions-Bewegungen kann man es heute an so vielen Ereignissen spüren und sehen – die Demokratie ist auf dem Vormarsch und wir schlagen gemeinsam die Trommel. Die Presse ist seit Monaten voll mit Hunderten Meldungen über Avaaz, unter anderem gab es einen 2000 Wörter langen Bericht in der London Times, der unsere Gemeinschaft an die Spitze einer »neuen globalen Supermacht der öffentlichen Meinung« stellt.“""

Aus dem Zitat aus dem AVAAZ-Newsletter-Abonnent vom April 2011, das auch im deutschsprachigen Wikipedia-Artikel zu AVAAZ zu finden ist, spricht eine unbändige politisch aktivistische Lust und das Selbstbewusstsein einer jungen, global agierenden Macht. Etwas, das man zwischen all den Grauherr-Parlamenten dieser Welt und den herumhuschenden Schatten der zuflüsternden Lobbyisten kaum mehr zu vermuten wagt: volle Power gegen all das, was die große Mehrheit von uns spontan hasst: Korruption, Unterdrückung, Gewalt. AVAAZ ist dabei durch und durch populistisch. Ein außerparlamentarischer Wirbelwind, der voll auf die medialen Möglichkeiten des Internets setzt.

Website von Avaaz
Die Website Avaaz.org

„Avaaz - bedeutet »Stimme« in vielen Sprachen Osteuropas, des Mittleren Ostens sowie Asiens - ging 2007 mit einer einfachen demokratischen Mission aufs Netz: Bürgerinnen und Bürger auf der ganzen Welt zu mobilisieren, um gemeinsam die Lücke zwischen der Welt, die wir haben und der Welt, die wir uns wünschen zu schließen.“ (AVAAZ über sich selbst)

Die Organisation wirbt mit ihren stark steigenden Mitgliederzahlen. Derzeit kommen monatlich etwa 100.000 dazu (zum Vergleich: die CDU Deutschland hat derzeit insgesamt ca. 500.000 Mitglieder). Allerdings wird man bei AVAAZ bereits zum Mitglied erklärt, wenn man mal irgendeine Kampagne mit unterzeichnet oder eine ihrer Mails verbreitet. Nicht alle so Beglückten wissen das zu schätzen. Die Website Projektwerkstatt.de etwa weiß auf unter dem Titel Seilschaften auf grüner Seite zu berichten:

„Im Winter 2009/2010 startete AVAAZ eine große Unterschriftensammlung - angeblich, weil mit einer Millionen Unterschriften eine Eingabe an das Europäische Parlament möglich sei […] Mit den Unterschriften könne es gelingen, »die Einführung von genmanipulierten Pflanzen und Produkten auf den Europäischen Markt zu stoppen«. Klingt gut. Haben Sie auch unterschrieben? Bitte ärgern Sie sich dann jetzt nicht über den Überbringer schlecher Nachrichten. Denn: Die von AVAAZ behauptete Möglichkeit einer schriftlichen Eingabe gab es gar nicht. Sie war aber ein guter Trick, um an die Adressen der Menschen zu kommen. Denn die sind im Zeitalter der harten Konkurrenz der fast immer hauptamtlich geführten Verbände und Bewegungsagenturen die wichtigste Basis, um Spenden und Mitglieder zu werben. Kurz vor Erreichen der angekündigten Million verschwanden einige 100.000 Adressen. Viele redeten von Schlamperei. Vielleicht war es aber auch nur ein weiterer Trick, um die Million nicht zu erreichen oder zumindest noch einige Zeit weiter sammeln zu können. Denn ab einer Million würden ja alle, die hingucken (wovon es leider nur Wenige gibt), mitbekommen, dass alles nur Propaganda war. So sammelte AVAAZ weiter und ließ die Aktion leise sterben. Die Aktion ging, die Adressen blieben.“

Während der Ansatz von AVAAZ (Masse macht Eindruck) in vielen Massenmedien durchaus auf positive Resonanz trifft, etwa in dem Artikel Teil 6 von Mächtige online: „Avaaz.org – the world in action“ des SZ-Magazins Jetzt.de, ist die Organisation anderen, kleineren Gruppierungen politischer Aktivisten oft ein Dorn im Auge. Deren Argumentation ist durchaus nachvollziehbar. So schreibt Joachim Guilliard in einem Blog-Artikel mit dem langen und sprechenden Titel Warnung vor Avaaz: Suspekte Gruppe sammelt über Millionen-Verteiler Unterstützer für eine No-Fly Zone in Libyen - d.h. für Krieg:

„AVAAZ nennt sich zwar »Kampagnennetzwerk«, ein Netzwerk ist aber gerade nicht, sondern es wird zentral von Leuten organisiert, die professionell arbeiten und genau wissen, wie man so was aufzieht. Die Gruppe die das ganze betreibt ist recht überschaubar. Viele haben ihre Erfahrungen in Wahlkämpfen in den USA oder anderen Ländern gesammelt oder durch ihre Arbeit in großen Stiftungen, wie der Rockefeller Foundation und der Gates Foundation.“

Der Info-Agent hat in seinem Blog-Artikel Wer steckt hinter AVAAZ? die Macher der Organisation aufgelistet. Die Gruppe um Ricken Patel besteht in der Tat aus mehr als einem PR-Profi, aus Wahlkampfstrategen, Meinungsforschern und anderen, die wissen, wie man Massen bewegt, verführt und, ja was?

AVAAZ wäre aber nicht es selbst, wenn es auf diese Vorwürfe nicht antworten würde. Auf ihrer Über-uns-selbst-Seite schreiben die Aktivisten:

„Wo andere globale Gruppen der Zivilgesellschaft aus themenspezifischen Netzwerken und nationalen Verbänden bestehen - jede mit eigenem Personal, Budget und Entscheidungsstruktur, kann Avaaz mit einem einzelnen, global agierenden Team mit einem allgemeinen Mandat zu jedem Problem arbeiten, das öffentliche Belange betrifft. Dies ermöglicht gezielte Kampagnen mit außergewöhnlicher Gewandtheit, Flexibilität, Fokus und in einem noch nie dagewesenen Umfang.“

Sie haben also alle ihre guten Gründe. Die AVAAZ-kritischen Aktivisten, die der Organisation vorwerfen, nicht wirklich den Dialog mit den Menschen zu suchen, sondern stattdessen naive Spontanunterstützer als vereinnahmte Mitglieder zu missbrauchen und sich letztlich der gleichen manipulativen Mittel zu bedienen wie mächtige Staaten und Unternehmen. Demgegenüber die AVAAZ selber, die argumentiert, dass man ohne selbst Macht und Einfluss zu haben nicht in das Gefüge der Mächtigen und Einflussreichen einbrechen könne. Letztlich läuft dieser Konflikt auf den alten Streit um die Frage hinaus, ob der Zweck die Mittel heiligt, oder ob Ohnmacht der typische Zustand moralischer Integrität in einer korrupten, von Machtbesessenen geprägten Welt ist.

Was man AVAAZ auf jeden Fall nicht vorwerfen kann, ist, dass sie ihre Kampagnen sklavisch am Tagesgeschehen ausrichten. Ein aktuelles Beispiel ist etwa die Kampagne gegen ein Gesetzesvorhaben in Uganda, mit dessen Hilfe Homosexuelle zum Tode verurteilt werden können (zum Hintergrund sei der Wikipedia-Artikel Homosexualität in Uganda empfohlen). In den Nachrichten kommt davon so gut wie nichts vor. AVAAZ zerrt das Thema jedoch ans Licht und mobilisiert seine „Mitglieder“-Massen. Die Kampagnen-Seite zum Thema zeigt einmal mehr, wie werbetechnisch professionell man die neuen, grünen Mittelschichten anspricht. Kritische Geister scheiden sich ein weiteres mal an der Frage, was der Hauptzweck der Seite ist: ein schreckliches Gesetz in Uganda zu verhindern oder Millionen neuer Adressen zu sammeln.

AVAAZ nutzt die Power der Vielen im Netz, aber es nutzt sie anders als die Twitter-Vernetzten es kennen. Es nutzt sie eher so, wie es sich so mancher Anbieter im Web1.0 erhofft hatte: durch viel Traffic und Adressensammeln über harmlose Bekundungen so viel Wirbel zu erzeugen, dass es selbst die Mächtigen beeindruckt. Die Frage ist allerdings, wie viel eine Million Mausklick-Stimmen mitsamt Adressen künftig noch wert sein werden. Selbst ugandische Machthaber sind lernfähig, wenn es um solche Dinge geht. Die Pro-Guttenberg-Seiten auf Facebook haben mit ihren hunderttausenden von Like-Unterstützern gezeigt, wie wenig reine Zahlen sagen, wenn es um triviale Sympathiebekundungen geht. Wenn unter einer Million Petitionsunterzeichnern keine zehn Aktivisten sind, die so schnell keine Ruhe geben, dann ist die Millionenzahl Makulatur. Die Power des Netzes ergibt sich aus der hohen Quote an authentischen, ernstgemeinten und mit realem Nachdruck vorgetragenen Bekundungen. Reine Klickvieh-Zahlen werden auf die Dauer so schnell verdampfen wie die sogenannten Hits, mit denen man in den Anfangsjahren des Web die Gutgläubigen über die tatsächlichen Zugriffszahlen auf ihre Webseiten täuschte.

Letztlich geht es darum, wie nachhaltig Kampagnen, die durch neue Medien von Profis wie denen von AVAAZ durchaus generierbar sind, tatsächlich sein können. Der AVAAZ-Artikel von SPIEGEL Online (Per Mausklick zur besseren Welt) wirft die Frage auf:

„Aber geht dauerhaftes Online-Engagement? »Avaaz ist für deutsche Verhältnisse hochprofessionell, doch in erster Linie 'campaigning', daher bleibt die Bindung sprunghaft und lose«, sagt Leonard Novy, Fellow bei der Berliner Stiftung Neue Verantwortung und Herausgeber eines Buches über Lehren aus dem US-Wahlkampf.“

Der Artikel folgert weiter: eine Organisation wie AVAAZ benötigt ständig Aufregerthemen, um im Gespräch zu bleiben und das Kribbeln von Millionen zu befeuern. Eine solche Organisation kann folglich nicht wirklich an einem Thema interessiert sein und für es eintreten, sondern muss aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus immer wieder rechtzeitig das Thema wechseln. Politischer Aktivismus durch große Kampagnen mit möglichst lautem Geklapper - das ist Politik, wie sie für das Vorfeld US-amerikanischer Präsidentschaftswahlen typisch ist. Und tatsächlich lassen sich Verbindungen zwischen AVAAZ und den Demokraten um Al Gore und Barack Obama finden, wie Sepp Aigner im Artikel Was ist drin, wenn AVAAZ draufsteht? vermutet.

AVAAZ steht also für global präsenten Kampagnen-Aktivismus mit beeindruckenden, durch das Internet erst möglich gewordenen Petitionszeichnerzahlen, hohe Agilität dank schlanker interner Struktur und linksökologischen Populismus jenseits historischer Nationalstaaten. Im Zeitalter schwächelnder parlamentarischer Demokratien und erstickendem EU-Normenbürokratismus zweifellos eine verlockende Alternative für politisches Engagement. Doch eben auch eine Organisation, die ihre Legitimation allein aus der reinen Mobilisierungsfähigkeit von Massen bezieht - eine potentiell gefährliche und problematische Legitimation, wie das 20. Jahrhundert lehrt.

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