Andriz und der Andere - Leben mit einem Pseudonym

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pseudonym-120.jpg Ob man ein Pseudonym benutzt oder nicht, hängt letztlich davon ab, wo man seine persönliche Widersprüchlichkeit verorten möchte.

In diesem Artikel geht es nicht um den gegenwärtig hochkochenden Konflikt, dessen Positionen sich zwischen Internet-Vermummungsverbot und datenschutzaktivistischer Totalanonymisierung bewegen. Es geht nicht um eine Wertung, ob das Agieren mit Pseudonymen im Netz altmodisch, legitim oder erstrebenswert ist. Es geht eher um die feinen Untertöne im Zusammenhang mit Pseudonymität. Dabei schreibe ich diesen Artikel als Außenstehender, der etwas von außen betrachtet, das für viele selbstverständlich und vertraut ist. Denn ich selber bin seit meinem Einstieg ins Internet vor 16 Jahren stets mit meinem bürgerlichen Namen aufgetreten. Unter diesem Namen bin ich im Netz bekannt, und meine wenigen Versuche, es mal mit einem Pseudonym zu probieren, waren irgendwie unbefriedigend. Bei anderen ist das jedoch anders. Sie schreiben ihre ersten netzöffentlichen Inhalte unter einem Pseudonym und bleiben dann daran hängen. So manches Pseudonym entwickelt dabei ein Eigenleben.

Etwa beim Andriz. Der Andriz war um die Jahrtausendwende im deutschen Sprachraum eine recht bekannte Netzpersönlichkeit. Er verstand in den wilden Jahren der Dotcom-Blase und der Tabellenlayouts nicht nur mit HTML, blindem Pixel und Grafik zu zaubern, sondern hatte auch viel zu sagen, vor allem rund ums Thema Literatur. Im heutigen Massennetz wäre er vielleicht ein Top-Blogger. Oder sogar ein Tausendsassa wie Sascha Lobo (dessen Name übrigens echt ist - er ist argentinischer Abstammung).

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Rodegan Andriz, erfunden an einem Novemberabend 1997, ist quasi ein "begreifbarer" virtueller Wurmfortsatz eines "Realen", der für diesen Text jetzt erst einmal vollkommen irrelevant ist.“ So beschreibt Andriz die Entstehung seines Pseudonyms auf seiner Personality-Seite. Auf der gleichen Seite schreibt er auch darüber, wie er, also Andriz, sich von seinem Erfinder entfernt hat, oder umgekehrt dieser sich von ihm - je nach Sichtweise. Jedenfalls hat der Andriz im Laufe seiner Netzjahre eine eigene Persönlichkeit entwickelt, die vor allem geprägt ist vom Feedback aus dem Netz. Schließlich ist der Andriz ja eine reine Netzpersönlichkeit, der im Gegensatz zu seinem Erfinder kein Leben außerhalb der Online-Sphäre zugestanden wird. Oder ist das nur eine Fehleinschätzung seitens des Erfinders?

Pseudonymität bewegt sich so gesehen jedenfalls irgendwo zwischen Schutz und Schizophrenie. Zunächst dient das Pseudonym dem Schutz einer Privatperson, die willentlich öffentliches Interesse auf sich zieht - sei es als Künstler oder als Kämpfer für eine Idee. Zwar wünscht sich die Privatperson eine öffentliche Wirkung oder Feedback aus der Öffentlichkeit. Doch gleichzeitig empfindet sie die nicht genau kalkulierbare Öffentlichkeit als potentiell bedrohlichen Mob, oder sie fürchtet Repressionen von Staat, Arbeitgeber, Vermieter oder anderen Mächten - deshalb der Schutzname. Waren es jedoch ehemals nur einige wenige Menschen, die bewusst ins Licht der Öffentlichkeit traten, so ist das im Internet zum Normalfall geworden. Wer nur irgendwo bloggt, seine Fotos veröffentlicht oder an Diskussionen teilnimmt, tritt in die Netzöffentlichkeit. Viele suchen dabei den Schutz des Pseudonyms. Pseudonymität ist zum Massenphänomen geworden.

Zu schizophrenen Effekten kann es kommen, wenn ein Pseudonym zu einer Marke wird. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die öffentliche Wirkung in großem Maß gelingt und der Name bekannt wird. Ein bekannt gewordener Phantasiename wird von der Öffentlichkeit besonders gerne auf bestimmte Aussagen, Richtungen oder andere Meme reduziert, für die er „steht“. Zwar ist das bei Realnames letztlich nicht anders. Auch diese können sich markant entwickeln und ihren Träger in der öffentlichen Wahrnehmung auf etwas Bestimmtes, Einseitiges reduzieren. Bei Realnames wird die Person hinter dem Namen jedoch gefühlt ernster genommen als bei Pseudonymen. Das gilt besonders für Artikulationsformen wie Dementi, Klarstellungen oder Bekenntnisse. Artikulationsformen also, bei denen es um die Darstellung von Warhheit und um Glaubwürdigkeit geht. In solchen Fällen wird Personen, die ohne Namensschutz agieren, mehr Bedeutung beigemessen als solchen, die hinter ihrem Pseudonym bleiben. Denn obwohl die Öffentlichkeit eigentlich weiß, dass an einem „echten“ Geburtsnamen nichts Echteres ist als an einem selbstgewählten Phantasienamen, so tendiert sie doch unbewusst dazu, an Realnames und Pseudonyme unterschiedliche Ansprüche zu stellen, was die Authentizität der Persönlichkeit dahinter betrifft. Die Folge ist, dass Träger von Pseudonymen letztlich weniger Möglichkeiten haben, durch Einsatz ihrer Persönlichkeit gegen ein Bild anzutreten, das die Öffentlichkeit von ihnen gewonnen hat.

Der Andriz macht nach eigenem Bekunden jedenfalls einige verstörende Erfahrungen, die er letztlich auf das Bild seines selbständig gewordenen Pseudonyms in der Öffentlichkeit zurückführt: von der Bild-Zeitung wird ihm ein Expertentum angedichtet, das er gar nicht hat, und Real-Life-Begegnungen mit Onlinern (darunter auch eine mit Liebeshintergrund) führten offenbar dazu, dass andere von ihm als Mensch enttäuscht waren. Er entsprach offenbar nicht dem Bild des zitrusfrischen Andriz. Das alles führte wohl schließlich auch dazu, dass Andriz (das Netzgeschöpf) mittlerweile nur noch in Form von historischem HTML existiert. Die Person dahinter hat hoffentlich ihren eigenen Weg gefunden.

Andere tun sich da leichter: „Wenn man es genau betrachtet, ist Don Alphonso eine Kunstfigur. Eine Literarisierung meiner richtigen Persönlichkeit, die weit genug weg von meiner eigentlich Persönlichkeit ist, als das ich mir das Gerede um Don Alphonso nicht zu Herzen nehmen müsste. Es ist eigentlich eine sehr angenehme Erscheinung, die es auch erlaubt, neben dieser Online-Existenz auch noch ein normales Leben zu führen, das überhaupt nichts mit den ganzen Sachen des Don Alphonsos zutun hat“. Das sagt Don Alphsonso selbst in einem Interview. Die Interview-Frage, zu der das zitierte Statement die Antwort ist, lautet: „Ist Don Alphonso ein Psyeudonym oder eher ein Alter ego?“?

Don Alphonso, das enfant terrible der deutschen Blogosphäre, ist professioneller Intellektueller. Deshalb hat ihn mittlerweile auch die F.A.Z. als Scharfgewürz ihres Blogs verpflichtet, das durch und durch doppeldeutig daher kommt: „Willkommen im Blog der besseren Gesellschaft oder dem, was heute davon übrig ist“ (Quelle). Don Alphonso ist souverän schizophren. Deshalb hat er auch kein Problem damit, dass wer will seinen bürgerlichen Namen Rainer Meyer kennen oder sich Bilder von ihm ansehen kann. Er weiß, dass die Leute sich nur am Poltergeist Don Alphonso ergötzen. Andreas Wollin weiß mehr darüber.

Es wäre allerdings verkehrt anzunehmen, dass ein erfolgreich schizophrener Pseudonym-Träger wie Don Alphonso mehr gedankliche Spannweiten verarbeiten muss als ein netzaktiver Mensch ohne Pseudonym. Denn auch Persönlichkeiten, die ohne Pseudonym agieren, sind komplex und widersprüchlich. Wer realitätsnah im Timeline-orientierten Social Web 2.0 publiziert, wird stets ein Bild seiner selbst vermitteln, das nicht homogen ist im Sinne einer klischeehaften Persönlichkeit. Die Sachlage ist nur etwas anders als bei Pseudonym-Trägern. Während bei letzteren die Spannung meist zwischen ihrer pseudonymen Netzfigur und der dahinterstehenden Persönlichkeit entsteht, findet die Spannung bei Realname-Persönlichkeiten direkt vor den Augen des Publikums statt. Auch unter den Realname-Usern gibt es professionelle Intellektuelle, die mit diesen Widersprüchen und möglichen Irritationsäußerungen aus dem Publikum wunderbar klarkommen, während andere angesichts der öffentlich wahrgenommenen Widersprüche an der eigenen Person geradewegs in Scham versinken.

Und was kann der gemeine, moderne Web-User aus alledem lernen? Unabhängig vom derzeit tobenden Bewertungsstreit um Privacy-Aspekte im Netz hat es viel mit der persönlichen Fähigkeit zur „praktischen, nicht klinischen Schizophrenie“ zu tun, ob man seine öffentliche Online-Präsenz unter einem Pseudonym modelliert oder bewusst darauf verzichtet. Die Widersprüchlichkeit, die aus der Komplexität der menschlichen Persönlichkeit resultiert, wird man als kontinuierlicher Content-Generator im modernen Web so oder so offenbaren. Es geht eher darum, wo man den Brandherd der persönlichen Widersprüchlichkeit positionieren möchte: Beim Pseudonym-User wird sich das Feuer tendenziell eher an der Spannung zwischen dem als künstlich wahrgenommenen Namen und der Person dahinter entzünden. Beim Realname-User entsteht der Brand eher an einzelnen Äußerungen, die sich widersprechen. Insgesamt ist jedoch eine Entspannung erkennbar. Nicht, weil die Widersprüchlichkeit von öffentlichen Äußerungen abnehmen würde. Wohl aber, weil die öffentliche Akzeptanz von persönlicher, öffentlich sichtbarer Widersprüchlichkeit steigt.

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