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(eigentlich veröffentlicht am: 25.02.2011)
„Es ist so, dass trotz der Bitte, uns HTML beim W3C entwickeln zu lassen, das W3C Nein dazu gesagt hat, sodass wir eine Mailing-Liste außerhalb des W3C gründeten und es dort taten, und dann, ein paar Jahre später, fragte das W3C ob sie mit uns zusammenarbeiten können, also sagten wir Ja, und nun wird die Spec gemeinsam entwickelt. (Wenngleich man oft das Gefühl hat, als würde das Personal beim W3C sich wohler fühlen wenn sie die alleinverantwortliche Seite wären, statt mit einer anderen zusammenzuarbeiten.)“
Dieses Zitat von Ian Hickson ist dem dieser Tage erschienenen Artikel WHATWG, W3C, and HTML von Anne van Kesteren entnommen und übersetzt. Der Niederländer Anne van Kesteren, Webstandards-Experte bei Opera, ist trotz seines jugendlichen Alters (Jahrgang 1986) seit 2003 hautnah am Geschehen rund um die Standardisierungsprozesse von HTML, XHTML, XML und CSS. Sein Blog ist voll von Artikeln aus erster Hand rund um den Fortschritt der grundlegenden Webtechnologien.
Auch er (Ian Hickson), so kommt der Federführer von HTML5 im van-Kesteren-Artikel weiter zu Wort, würde am liebsten ein HTML entwickeln, das seinen persönlichen Visionen vom Web entspricht. Unglücklicherweise müsse sich die Entwicklung jedoch an der Realität orientieren. Wieder so ein deutlicher Seitenhieb auf die von Hickson angeprangerte Praxisferne des W3C. Erst kürzlich hatte der Spielzeugeisenbahnliebhaber und Google-Mitarbeiter Hickson in dem Artikel HTML is the new HTML5 erklärt, dass die HTML-Spezifikation bei der WHATWG fortan ein lebender Standard ohne festgeschriebene Zustände sein werde:
„1. Die HTML-Spezifikation wird ab sofort 'HTML' genannt, mit der URL http://whatwg.org/html. (Wir werden auch die Spezifikation Web Applications 1.0 weiter pflegen, die HTML und eine Reihe von angeschlossenen APIs wie Webstorage, Webworkers und serverseitig gesendete Ereignisse enthält.)
2. Die HTML-Spec der WHATWG kann nun als 'lebender Standard' betrachtet werden. Sie ist ausgereifter als als alle Versionen der bisherigen HTML-Spezifikation, und deshalb finden wir es nicht mehr sinnvoll, sie nur als Entwurf zu behandeln. Wir werden nicht länger dem 'Schnappschuss'-Modell der Spec-Entwicklung folgen, mit Gelegenheiten wie 'Aufforderung zum Kommentieren', 'Aufforderung für Implementierungen' usw.“
Das wiederum war eine Reaktion auf die etwas merkwürdige Aktion des W3-Konsortiums gewesen, HTML5 wie einen neuen, für 2014 als Recommendation (offizielle W3C-Empfehlung) geplanten Messias zu feiern - mit einem Ritterschild-Logo und theatralischen Worten, die ins Deutsche übersetzt ganz und gar gruselig klingen: „Es steht stark und wahrhaftig, unverwüstlich und universell, genau wie das Markup, das du schreibst. Es strahlt so leuchtend und kräftig wie die worwärts denkenden, engagierten Web-Developer, die ihr seid. Es ist der Standard der Standards, der Wimpel für den Fortschritt.“
Genau diese Überbetonung des ehernen Standards ist es, an der Hickson seit Jahren nagt. Allein steht er damit keinesfalls. Viele Webentwickler da draußen sehen die Sache genauso. Artikel wie W3C auf dem Weg in den akademischen Elfenbeinturm (Wolfgang Sommergut, 2004) sorgten bereits vor Jahren dafür, dass der zuvor mühsam aufgebaute Respekt vor den W3C-Standards wieder ins Wanken geriet. Dabei sind sich im Gegensatz zur Zeit vor der Jahrtausendwende allerdings alle Beteiligten im klaren darüber, dass Webtechnologien, allen voran HTML und CSS, auf denen die meisten Web-Inhalte basieren, möglichst genau und herstellerübergreifend spezifiziert werden müssen. Nur so ist es Webentwicklern möglich, Websites zu erschaffen, die browser-übergreifend (und - mittlerweile genauso wichtig - gerätetypen-übergreifend) weitgehend einheitlich funktionieren.
Was HTML betrifft, so hat die 2004 aus dem W3C hervorgegangene WHATWG die praxisorientierte Weiterentwicklung übernommen. Bei CSS, dessen Entwicklung beim W3C verblieb, fehlt diese Realitäts-Straffung. Das Ergebnis: über 30 Einzelspezifikationen zum CSS3-Standard, der wohl niemals erreicht werden wird. Denn einige der Einzelspezifikationen verharren bereits seit sieben oder acht Jahren unverändert im Stadium eines Arbeitsentwurfs (Working Draft). In der Praxis wird CSS3 durchaus schon verwendet. Aber eben nur das davon, was von Designern häufig nachgefragt wird, und was in den heutigen Browsern bereits implementiert ist. Ein praktisch nicht mehr erreichbarer CSS3-Standard ist angesichts dessen nichts als Makulatur. Insofern ist Hicksons „lebender Standard“, der einfach der Standard ist, die logische Konsequenz.
Realitäts-Straffung und lebende Standards - das klingt vernünftig und aus Erfahrung gereift. Es gibt jedoch auch eine Kehrseite dieser Medaille. Mathias Schäfer aka Molily, den man sich als so eine Art Anne van Kesteren für den deutschsprachigen Raum vorstellen darf, hat sich damit bereits Ende 2009 näher beschäftigt. In seinem Artikel HTML5 - ein soziales Desaster lässt er kein gutes Haar an Ian Hickson: „In den Augen von Kritikern ist die Arbeit an HTML5 von einer kleinen, selbstherrlichen Gruppe bestimmt, die einen bestimmten Kurs durchdrückt. Nur eine Person, der »Herausgeber« (editor) hat Schreibrechte auf die Dokumentation. Diese Person, Ian Hickson, ist Gründer der WHATWG, die HTML5 einst auf den Weg brachte. Wegen dieser Machtkonzentration wird er selbst von Anhängern ironisch als wohlwollender Diktator (benevolent dictator) oder Vorsitzender (Chairman) beschrieben – letzteres in Anlehnung an die Sprache autoritärer Regime.“
In der Zeit, als Molilys Artikel geschrieben wurde, resultierten allerdings viele angestaute Agressionen unter den Beteiligten aus der Vorstellung, dass es gelte, möglichst bald einen über viele Jahre gültigen HTML5-Standard festzuschreiben. Es ging sozusagen um vermutete letzte Chancen, diese und jene Interessen und Wünsche noch im künftigen Standard unterzubringen. Mit der Umwandlung in einen lebenden Standard, der jederzeit gilt, aber niemals hundertprozentig abgeschlossen ist, hat Hickson eine Menge Druck aus der Sache genommen. Wenn der Markt es erfordert, lassen sich umstrittene Konzepte wie jenes, das seinerzeit von Microsoft vorgeschlagen wurde (Integration von XML-artigen Namensräumen, um HTML5 - oder einfach wieder HTML - anwendungsabhängig erweitern zu können), jederzeit in den Standard mit aufnehmen. Nur eine Regel muss dabei stets beachtet werden. Was immer in den Standard integriert wird, wird Bestandteil einer zukünftig erforderlichen Rückwärtskompatibilität von Browsern. Insofern gilt es, den Standard nicht inflationär zu erweitern, sondern überlegt.
Bleibt die Frage, ob es nicht Zeit wird, diese Vorgehensweise auch auf CSS anzuwenden, dessen Entwicklung vor allem für Webdesigner fast noch wichtiger ist als die von HTML. The CSS working group is irrelevant, attestierte Ian Hickson der Arbeitsgruppe beim W3-Konsortium jedenfalls bereits 2007. Konsequenzen daraus gibt es bislang jedoch keine.
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