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Eigentlich hatte ich diesen Beitrag schon fertig. Dann erschien der Spiegel-Online-Artikel Die C64-Generation schlägt zurück. Er schlägt auf seine Weise in die gleiche Kerbe, um die es auch hier geht. Und dass er ein gewaltiges Echo in genau der Netzöffentlichkeit hervorgerufen hat, um die es hier geht, spricht ebenfalls für sich. Es mehren sich die Texte, in denen bisherige Tabus gebrochen werden. Das Netz ist nicht der Cyberspace, das Netz ist eine neue Realität.
Doch nun zum eigentlichen Blog-Beitrag:
"Die Politik handelt nach sich verselbständigenden Ritualen, baut dabei einen Scheindisput auf und der Bürger versteht letztendlich weder die Sprache der Politik, noch die Politik selbst – er merkt lediglich mehr und mehr, dass dies nicht seine Politik ist."
So der Spiegelfechter-Artikel Wir holen uns die Politik zurück! Aber wie?. Besprochen werden dort zwei neuere Sachbücher, die sich mit Politikverdrossenheit und dem immer weiter wachsenden Anteil an bewussten Nichtwählern befassen. Denn allmählich schwant einzelnen Köpfen in Medien und Politik, dass die mittlerweile 30-50% Nichtwähler nicht einfach immer nur wie bislang geglaubt "bildungsferne Schichten" sind. Ein immer größerer Teil der Gesellschaft wendet sich völlig bewusst und nicht gedankenlos von dem gesamten Parteiensystem und seinen Tanzritualen auf den Nagelbrettern der Lobbies ab. Und ebenso von dem ganzen angeblich offiziellen "öffentlichen Leben", das dazugehört und das klassische Medien dem Volk vermitteln wollen.
Der Bruch mit dieser Realität ist ein Prozess, der allerdings schon zwei Jahrzehnte andauert. Er begann spätestens mit dem Aufkommen des Privatfernsehens und der Soaps. Die dabei entstandene Medienrealität, bestehend aus Casting-Superstars, Camp-Bewohnern, Kochprofis, Heimwerkerkönigen, Supernannys und Serienhelden, hat einen nicht ganz unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung in eine völlig andere Realitätswahrnehmung versetzt. Die Mehrzahl der Nichtwähler dürfte heute tatsächlich aus diesem Lager kommen. Und viele davon sind vielleicht insofern gedankenlos, als ihnen Kochprofis und Supernannys irgendwie realitätsnäher sind als die Ergüsse der grauen Eminenzen aus Politik und Wirtschaft.
Mittlerweile tritt jedoch eine weitere Bruchlinie in Erscheinung: Im Internet wird, wie der Spiegelfechter-Artikel ja auch feststellt, langsam aber sicher eine Art "Gegenöffentlichkeit" errichtet. Diese neue Gegenöffentlichkeit wird um so deutlicher sichtbar, je mehr Menschen nicht einfach nur online sind, sondern auch tatsächlich das Potenzial des Netzes nutzen. Die Netzöffentlichkeit ist weniger zentralistisch, dafür aus Sicht des Einzelnen persönlicher, direkter, dichter und authentischer. Wenn ich mir beispielsweise meinen Nachrichtenfluss bei Facebook und Twitter ansehe, tickern da die Kundgebungen von Freunden und persönlichen Fan-Seiten optisch auf einer Augenhöhe mit den News etablierter Nachrichtenorgane vorüber. Und genau das schätzen die Leute. Auf kurz oder lang verschieben sich dadurch die Perspektiven. Helden, Prominente, geachtete Leute sind in der Netzöffentlichkeit völlig andere als in der Welt der Tagesschau. Aber auch andere als in der Medienrealität, welche das Privatfernsehen erschaffen hat.
Doch kann man deshalb folgern, dass die Akteure der Netzöffentlichkeit vorwiegend politikverdrossene Nichtwähler sind, denen die Welt des Privatfernsehens aber zu platt ist? Sicher nicht pauschal. Im Netz wird auch an vielen Stellen intensiv über aktuelle Politik diskutiert, und zwar mit dem aus Politikerkreisen üblichen Vokabular und im Diskurs-Stil der öffentlich-rechtlichen Medien. Ebenso gibt es viele netzaktive Fans von Serien oder Events aus der Privatfernseh-Sphäre. Verallgemeinern wäre also fehl am Platz.
Allerdings haben einige Vorgänge der letzten Wochen und Monate, hierzulande insbesondere die Sache mit den Internetsperren und der Petition dagegen, vielen Netzbürgern deutlich gemacht, dass sie mit ihrer Art von Parteimüdigkeit und Politikverdrossenheit nicht allein sind. Und dass sie, die ihre Tage vorwiegend in neuen, digitalen Welten verbringen, sich nicht länger als weltfremde bis gefährliche Idioten beschimpfen lassen wollen. Die einen mögen sie vielleicht für Dissidenten halten, und die anderen für Indigo-Kinder. Aber mittlerweile ist ihnen klargeworden, dass sie keine Außenseiter mehr sind, sondern eine gesellschaftliche Strömung, wenn auch eine, die noch vergleichsweise leise und klein ist.
Wir leben also in spannenden Zeiten, auch wenn man da draußen noch nicht so viel davon sieht.
Der Begriff "Gegenöffentlichkeit" ist fast zu antiquiert, um zu beschreiben, was sich als Netzöffentlichkeit derzeit politisch lauter zu Wort meldet.
Themen rund um Netz-Verregelungen sind der Transmissionsriemen, der wieder mal einen Hauch von "wir-Gefühl" erzeugt - vor allem bei denjenigen, die sich "lange schon dabei" fühlen und immer schon engagiert und interessiert die neuen Möglichkeiten nutzten. Sie können lange desinteressiert wegschauen, was "Netzferne" so treiben - aber nicht mehr, wenn auf einmal die Nervenfasern des neuen Lebens angegriffen werden. Wobei jeglicher Eingriff erstmal als Angriff erscheint (genau wie den Pure-Real-Life-Traditionalisten alles als "Schutz & Verteidigung" vorkommt).
Um diesen "heißen Kern" herum lagern sich verschiedene andere Frontlinien an - allerdings wie ich finde nicht immer durchweg schön zugeordnet zu Institutionen, Mainstreammedien, Lobbys, Unternehmen, Parteien etc., sondern mitten durch sie hindurch. Denn SIE ALLE haben ja doch meist eine Website und verfolgen gewisse eigene Interessen im Netz, bis hin zur Suche nach dem Geschäftsmodell bzw. den Wählern der Zukunft.
Man schaue sich nur an, wie z.B. DIE ZEIT abwechselnd Netz-Mobbing-Artikel und Lob-Beiträge publiziert - in der Printversion mehr von der ersteren Sorte, klar. Im Web werden sie (= Grppe der Individuen, die DIE ZEIT machen) dennoch hier und da als monolithisches netz-feindlich vorgestriges Mainstream-Flagschiff angesehen, was sie de facto schon gar nicht mehr sind. (Da lebt der "Altmensch" durchaus mal im Netizen-Kopf auf!). SPON und FAZ haben eine ebensolche Janusköpfigkeit entwickelt - wer in dieser Gesellschaft noch wirklich dran ist am Geschehen, ist schon selber ein Stück weit "Netizen", ob zugegeben oder nicht.
Du fragst, ob man Netzöffentlichkeit vorwiegend mit "politikverdrossenen Nichtwählern, denen die Welt des Privatfernsehens zu platt ist", gleich setzen kann. Politkverdrossen würde ich es nicht nennen, wenn man auf das "Parteien-Format" des politischen Geschehens keinen Bock mehr hat. Ich beschreibe es lieber als Umformatierung der Herangehensweisen an Politik - ein notwendiges Update in einer Welt, die durch das Netz ein neues "Nervenkostüm" erhalten hat und damit den alten Vermittlungsformen kollektiver Willensbildungen zunehmend entwächst.
"Wenn ich mir beispielsweise meinen Nachrichtenfluss bei Facebook und Twitter ansehe, tickern da die Kundgebungen von Freunden und persönlichen Fan-Seiten optisch auf einer Augenhöhe mit den News etablierter Nachrichtenorgane vorüber."
Na, damit hast du sicher noch keine Orientierungsprobleme und die Mischung entspricht vermutlich der Gewichtung, wie es sie auch im "real life" zwischen schweren Themen und Alltagsplaudereien immer schon gab.
Aber rechne noch all die Nachrichten "nicht etablierter Medien" hinzu, die in derselben Manier wie die Altmedien ihre oft sehr spezifische Sicht auf die Welt zum Besten geben, dann ergibt sich ein Strauß unterschiedlichster Welt-Interpretationen, aus denen man ständig zu wählen hat, was man für wahrscheinlich oder doch nicht so wahrscheinlich hält. (Man lese nur mal fortlaufend alles rund um Finanzkrise mit: Mainstream-Medien, Blogs von Freunden, NetNewsGlobal usw.) Trau - schau - wem?
Wer hat noch genug Autorität, die zersplitternden Öffentlichkeiten punktuell zu synchronisieren? Die PARTEIEN sind es immer weniger, auch andere Großorganisationen erleben Machteinbußen und Mitgliederschwund. Ihre langen Diskussionsprozesse und Entscheidungswege, ihre hierarschichen Strukturen - immer weniger wollen sich das antun, wenn es Alternativen gibt oder zumindest die Möglichkeit, diesen Einflusssphären einfach auszuweichen.
Beispiel Wissenschaft:
da gibts die traditionellen Wege, Institutionen, Publikationsorgane und Verlage, wie man "JEMAND WICHTIGES" wird (zitiert, berufen, mit Forschungsaufträgen beglückt…). Auf diesem Weg muss man einen langen Atem haben, sich Autoritäten unterwerfen, übliche Rituale beachten, sein "Eigenes" heraus stellen, schützen und gegen Andere abgrenzen.
Mit dem Netz gibt es plötzlich eine Alternative: wem es wirklich um seine Forschungsfrage geht, kann auf das ganze Brimborium pfeiffen und sich direkt mit ähnlich denkenden Kollegen, dem Publikum und auch potentiellen Förderern austauschen. Also z.B. zeitnah auf freien Servern laufende Ergebnisse und Erkenntnisse Publizieren, dazu ein Blog in verständlicher Sprache führen und "persönliche Web-PR" betreiben.
Klar, dass da die "alte Welt" ins Wanken (und Kämpfen) gerät!
Wir dürfen gespannt sein, was noch alles kommt. Viele der aktuellen Konfliktlinien kann man direkt auf die Frage zurück führen, die auch durch die Finanzkrise gestellt wird: wie knacken wir das Primat des Ökonomischen wieder so weit auf, dass kulturelle Fortentwicklung möglich wird?
Das Netz gibt den Werkzeugkasten - benutzen muss ihn jeder selber.
Hallo Claudia,
Durchaus ein interessanter Einwand. Manches, was ich in letzter Zeit gelesen (und womöglich auch selber geschrieben) habe, ist in der Tat sehr feindbildbetont und alles andere als "integrativ". Aber ich denke, diese ausgrenzenden, fast hasserfüllten Wir-gegen-die-Äußerungen sind notwendige Bausteine im Rahmen einer Standortbestimmung.
Das ist mir in letzter Zeit auch aufgefallen, besonders bei der ZEIT. Ist aber sicherlich beabsichtigt und fällt unter das, was man dort als "Debattenkultur" bezeichnet. Im Netz kommt das dann halt nur so an, als ob da immer abwechselnd kompetente und inkompetente Autoren schreiben, und der Verlag merkt es nicht.
Weder Parteien noch Medien schaffen das mehr. Deshalb ist eigentlich auch längst schon der Auftrag der "Öffentlich-Rechtlichen" erledigt, inklusive GEZ-Mafia. Wir müssen einfach lernen, mit den ganz verschiedenen Sichten klarzukommen und Meinungsbildung ohne staatlichsmediales Vorkauen zu betreiben. Aber mit dem von dort geerbten Ernst. Denn auch wenn es keine empfohlenen Richtlinien für die Realitätswahrnehmung mehr gibt, heißt das noch lange nicht, dass man in Beliebigkeit versinken muss.
viele Grüße
Stefan Münz
Ich möchte die Öffentlich-Rechtlichen nicht missen und hätte für die GEZ-Gebühren gerne deren Sendungen dauerhaft im Web. Sofern ich überhaupt TV gucke, finde ich zu 95% für mich persönlich erträgliche Inhalte und Formate bei ihnen. Leider streben sie den Privaten schon viel zu sehr nach. Und ich vermute mal, wenn der "Auftrag" weg wäre, wäre bald kein Unterschied mehr…
"Ich möchte die Öffentlich-Rechtlichen nicht missen und hätte für die GEZ-Gebühren gerne deren Sendungen dauerhaft im Web. Sofern ich überhaupt TV gucke, finde ich zu 95% für mich persönlich erträgliche Inhalte und Formate bei ihnen."
Shocking! Das es so etwas gibt, LOL
Einfach nur schockierend!
Beste Grüße!
Sky
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